TikTok im Schutzkeller
16. Mai 2022Die Verbindung nach Mailand, Italien, steht. In einem Hoody mit der Aufschrift "Future" winkt Valeria Shashenok in die Zoom-Kamera. Vor wenigen Wochen ist sie hierhergekommen - eine italienische Familie hat sie aufgenommen. Bis vor ihrer Flucht aus der Ukraine versteckte sie sich mit ihren Eltern in einem Keller in Tschernihiw, einer Stadt im Norden der Ukraine, nahe der Grenze zu Belarus und Russland.
Angst und Langeweile im Schutzkeller
"Meine Mutter kam (am 24. Februar, Anmerkung d. Redaktion) in mein Zimmer und sagte nur: 'Valeria! In Kiew hat eine Bombe eingeschlagen und ein Gebäude zerstört!'", erzählt Valeria Shashenok. Sie und ihre Eltern reagierten schnell: Sie packten das Wichtigste ein und gingen in den alten Bürokeller ihres Vaters. Damals betrieb er in dem Gebäude ein Restaurant, erst kurz zuvor habe er den Keller renoviert - es gab eine Dusche, Toiletten und sogar ein Fitnessgerät. 17 Tage verbrachte Valeria dort: "Es war sehr langweilig", erinnert sich die 20-Jährige. Doch glücklicherweise hatte sie WLAN und ihr Handy dabei.
TikTok und die Welt da draußen
Valeria Shashenok ist ein Digital Native, Generation Z, mit Instagram und TikTok aufgewachsen. Social Media war für sie das Fenster zur Welt, doch nun war es umgekehrt: Nun wollte die Welt wissen, was in ihrem Land passiert. Zu jener Zeit lief auf TikTok ein Trend, "Things that just make sense in …", bei dem Menschen ungewöhnliche Dinge in ihren Wohnungen oder Städten zeigten, die nur bei ihnen Sinn ergaben.
Valeria nahm den Trend auf und zeigte den Alltag im Keller. Mit bissigem Humor zeigte sie Dinge, die in einem Schutzraum Sinn ergeben. Wie etwa sich mit einem Heißluftgebläse die Haare föhnen, wie das Frühstück unter Tage aussieht oder wie man traditionelle Gerichte wie Syrniki ohne Küche zubereiten kann. Das fand ein großes Echo: Die 20-Jährige hat inzwischen 1,1 Millionen Follower; ihr erfolgreichstes Video wurde mehr als 48 Millionen Mal geklickt.
Der subtile, schwarze Humor spielt nicht nur in Valerias Videos eine zentrale Rolle; Memes von ukrainischen Kanälen sind im Zuge des Krieges populär geworden:
"Ich mag schwarzen Humor, er hilft einem, absurde Zeiten zu überstehen", sagt Valeria. "Der Humor ist ein Teil unserer ukrainischen Kultur. Die Menschen in der Ukraine glauben wirklich daran, dass der Krieg bald enden wird, dass wir siegen, sie wollen optimistisch bleiben, was anderes bleibt ihnen nicht." Und so scherzt Valeria, dass das Leben im Keller auch positive Seiten habe: Aus Mangel an Kuhmilch hätten sie sich ganz gesund mit Hafermilch ernährt.
Nicht nur in der digitalen, auch in der realen Welt ist der Humor sichtbar: So zieren Plakatwände mit der Aufschrift "русский военный корабль иди нахуй" (Übersetzung: "Russisches Kriegsschiff, f*** dich") die Straßen in einigen Städten. Diese Ansage geht zurück auf die ersten Tage des Krieges, als die ukrainischen Grenzsoldaten, die auf der kleinen Schlangeninsel stationiert waren, durch Russland zur Kapitulation aufgefordert wurden.
Flucht nach Italien
Nach 17 Tagen im Schutzkeller und der Intensivierung der russischen Angriffe entscheidet sich Valeria zu fliehen - alleine. Ihre Eltern bleiben in Tschernihiw. Über Polen und Deutschland kommt sie nach Italien. Seit einigen Wochen lebt sie nun bei einer Familie.
Sie hält Kontakt mit Freunden und Familie in der Heimat: Valeria telefoniert täglich mit ihren Eltern - mehr mit ihrer Mutter, weniger mit dem Vater: "Er ist ist so nervös, er hat den ganzen Tag nichts zu tun, schreit mich am Telefon an, nicht weil er mit mir schimpfen möchte, sondern weil er mit den Nerven am Ende ist. Er dreht durch."
Auch mit Anton, einem Freund, ist sie regelmäßig im Austausch. Auch er wollte fliehen, aber das ist ihm nicht gelungen. Ein Gesetz verbietet Männern zwischen 18 und 60 Jahren das Land zu verlassen. Anton habe sich bei der Armee gemeldet und schiebe Wache bei einer Militäreinheit, sagt Valeria.
Ende März erfährt sie von ihrer Mutter, dass ihr Cousin von einer Bombe erfasst wurde und an den Folgen der Verletzungen gestorben ist: "Was macht Russland in meinem Land, das frage ich mich jeden Tag. Putin sagt, er wolle uns vor der ukrainischen Regierung beschützen. Bitte was? Wir hatten ein perfektes Leben, wir wollen von Russland nicht beschützt werden", sagt Valeria, die selber russischsprachig aufgewachsen ist.
Pläne für die Zukunft
Wie alle ihre Landsleute hofft sie auf ein baldiges Ende des Krieges. Eines Tages wolle sie zurückkehren: "Ich vermisse mein Land”, sagt sie. "Wenn der Krieg vorbei ist, möchte ich zurück."
Ab dieser Woche ist Valeria Shashenok auf Lesereise: Im Buch "24. Februar ... und der Himmel war nicht mehr blau" hat sie ihre Fotos und Erlebnisse nach der Invasion der russischen Armee zusammengefasst.
"Das Buch widme ich den Russen, in der Hoffnung, dass sie verstehen, was sie uns angetan haben", sagt sie. Aber so richtig glaube sie nicht daran. Einige wollten es nicht verstehen, andere hätten Angst, dagegen zu sprechen. Doch sie wolle weitermachen - nicht nur auf TikTok und Instagram: Valeria Shashenok arbeitet mit Hilfsorganisationen aus Tschernihiw zusammen und will durch ihren Bekanntheitsgrad Geld für den Wiederaufbau ihrer Stadt sammeln.