Bulgarien und seine verdrängte Vergangenheit
11. Mai 2020Sie lagerten in einer Kiste zwischen Urkunden, Medaillen und Orden, eingepackt in einer zerknitterten Klarsichtfolie. Die zwei Postkarten meines bulgarischen Urgroßvaters zeigen eine Schule in Pécs (Ungarn) und eine idyllische Straßenpromenade in Deutschlandsberg (Österreich). Es ist das Jahr 1945. "Mir geht es gesundheitlich gut. Und ich hoffe, dass Ihr Euch zu Hause ebenfalls guter Gesundheit erfreut", schreibt Hristo Ivanov seiner Tochter im April 1945. Er war als Tierarzt unverzichtbar für die Armee und musste in den Krieg ziehen, Seite an Seite mit den Rotarmisten.
Auf der anderen Postkarte teilt er mit, dass es so aussehe, als ob sie bald wieder nach Hause kämen. Seiner Tochter rät er: "Lern viel, sei fleißig, damit, wenn der Krieg einmal vorbei ist, und ich nach Hause komme, Du mich stolz empfangen kannst." Seiner Ansicht nach ließ sich mit Fleiß und Lernen alles erreichen. Er sollte sich getäuscht haben.
Die Sowjetunion - Befreier oder Besatzer?
Die Rote Armee war im September 1944 in Bulgarien einmarschiert. Bis zu 30.000 Menschen wurden in den drei Monaten danach ermordet. Es war eine Abrechnung mit jenen, die ein Dorn im Auge der neuen Machthaber waren. Die Opfer: ehemalige Minister, Journalisten, Geistliche, Geschäftsleute, Intellektuelle und Großgrundbesitzer. Der Vorwurf: Nicht-Einreihung in das kommunistische System. Im Konzentrationslager von Belene auf der gleichnamigen Insel wurden Tausende ermordet.
Entscheidend für das eigene Leben waren daher nicht der Fleiß und das Lernen, sondern die Parteizugehörigkeit. Meine Oma hatte kein Parteibuch und durfte nicht Medizin studieren, sie wurde Lehrerin für Biologie und Chemie in einem kleinen Dorf. Der Bruder meines Uropas soll angeblich Suizid begangen haben, aber daran glaubt niemand in der Familie, Mord soll es gewesen sein. Der Etablierung einer kommunistischen Herrschaft in Bulgarien stand er offen skeptisch gegenüber. Sie spaltet bis heute die öffentliche Meinung. Für die einen hat die Rote Armee im September 1944 Bulgarien befreit, für die anderen: okkupiert. Die Sowjetunion - Befreier oder Besatzer? Ein historischer Rückblick.
Bulgarien zwischen zwei Fronten
Bis 1941 hat Bulgarien sich nicht am Krieg beteiligt. Auf Drängen des Zaren Boris III. trat das Land schließlich dem Drei-Mächte-Pakt bei. Deutsche Truppen wurden im Land stationiert. Durch diesen Schulterschluss mit Deutschland erhofften sich die Regierenden in Sofia Besatzungsgebiete im benachbarten Westen, zum Beispiel Teile des heutigen Serbien und Nord-Mazedonien. Doch 1944 stand die Rote Armee vor den Toren Bulgariens, am 5. September erklärte die Sowjetunion dem Zarenreich den Krieg. Ein von bulgarischer Seite geforderter Waffenstillstand wurde abgelehnt. Die Rotarmisten marschierten über die nördliche Grenze ein und besetzten zunächst die Hafenstädte Varna und Burgas am Schwarzen Meer, wo die Sowjets die zurückgebliebenen deutschen Seeleute gefangen nahmen. Noch am selben Tag brach Bulgarien die diplomatischen Beziehungen zu Deutschland ab.
In Bulgarien einmarschiert, stießen die Rotarmisten kaum auf Gegenwehr. Viele Menschen waren unzufrieden mit der Regierung und der Monarchie. Kurzerhand wurde eine Marionettenregierung etabliert, die aus Moskau kontrolliert wurde. Bulgarien schlug sich daraufhin auf die Seite der Sowjetunion - gegen Deutschland. Viele bulgarische Männer wurden nun in den Krieg eingezogen - auch mein Urgroßvater. Gegen seinen Willen kämpfte er fortan Seite an Seite mit den Rotarmisten.
Seine letzte Karte stammt vom 17. Mai 1945 - der Krieg war da schon vorbei. Bulgarien gehörte inzwischen zu den Siegermächten. Über das neue Bündnis sagte der spätere kommunistische Ministerpräsident, Georgi Dimitroff: "Bulgarien braucht die Freundschaft mit der UdSSR wie jedes Lebewesen Luft und Sonne braucht". Bis heute hält sich das Narrativ, dass Bulgarien befreit wurde. Doch der sowjetische Einfluss nach Kriegsende brachte nicht die ersehnte Freiheit.
Die Gegenwart der Vergangenheit
Nach dem Fall der Berliner Mauer und dem Zusammenbruch des kommunistischen Regimes begann in vielen osteuropäischen Ländern die historische Aufarbeitung - nicht jedoch in Bulgarien. Selbst 30 Jahre nach der Wende und dem Übergang in eine demokratische Staatsordnung wird über die Gräueltaten des kommunistischen Regimes nur wenig öffentlich diskutiert. Die Schulbücher für Geschichte der zehnten Klasse wurden erst vor einem Jahr umgeschrieben. Der Gesetzesbeschluss dazu ist bereits aus dem Jahr 2000. Das kommunistische Regime wird diesem zufolge als verbrecherisch bezeichnet.
Die westlich orientierte Zivilgesellschaft geht einen Schritt weiter - sie fordert seit Jahren die Entfernung russischer Denkmäler. Aktivisten besprühen sie regelmäßig mit bunter Farbe und verwandeln die Rotarmisten in Helden westlicher Pop-Kultur wie Superman oder Captain America. Nach der Krim-Annexion erstrahlte in Sofia ein Denkmal in den ukrainischen Nationalfarben. Dasselbe Denkmal bekam später eine gehäkelte Sturmhaube in Anlehnung an die russische Protestband Pussy Riot. Mehr als 75 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges sind diese Denkmäler ein Symbol für die Zerrissenheit der bulgarischen Gesellschaft, die bis heute keinen Zugang zu ihrer eigenen Geschichte gefunden hat.
Der 9. Mai - ein Tag, der spaltet
Während in den meisten Ländern Europas am 9. Mai die historische Schuman-Erklärung von 1950 in Paris gefeiert wird - quasi die Grundsteinlegung der Europäischen Union - feiern Russland und andere ehemalige Staaten der UdSSR den Sieg über Nazi-Deutschland mit Militärparaden. Bulgarien, zerrissen zwischen Ost und West, zwischen Russland-Nostalgie und West-Orientierung, steht zwischen beiden Feiertagen. Und mit jedem Jahr werden die Gräben tiefer.
Auch in Bulgarien wird beiden Anlässen gedacht, doch die Feierlichkeiten zum Sieg über Nazi-Deutschland haben eine sehr viel größere Dimension: Tausende Menschen versammeln jährlich sich im Zentrum von Sofia, wo bulgarische und russische Flaggen wehen. Gesungen werden russische Lieder, Schüler tragen gelb-schwarz gestreifte Georgs-Bändchen, ein Symbol für militärische Tapferkeit im Zweiten Weltkrieg, und es werden Kränze niedergelegt. All das spielt sich unterhalb des großen Denkmals der Roten Armee ab, ein vierzig Meter hoher Pfeiler, an dessen Spitze ein Rotarmist eine Waffe gen Himmel richtet. 1993 entschied der Stadtrat, das Denkmal abzureißen. Doch nichts passierte. Keiner traute sich, den Beschluss durchzusetzen.
Die Hoffnung eines alten Mannes
Mein Urgroßvater hat die Unabhängigkeit Bulgariens 1908 erlebt, die Monarchie, den Einmarsch der Roten Armee 1944 und die darauffolgenden 45 Jahre kommunistischer Herrschaft. Er hat sogar noch die Wende mitbekommen, die frühen Jahre der Demokratie. Er hegte große Hoffnung für die Zukunft Bulgariens. 1991, mit fast 90 Jahren, ist er gestorben. Ich erinnere mich an einen alten Mann, der immer auf einem Stuhl saß, den Blick zum Meer gerichtet. Über den Krieg hat er mit mir nie gesprochen, nur über das Schwarze Meer, das in den 1950ern so stark vereiste, dass er weit hinaus laufen konnte.
Bulgarien ist seit 2004 Nato-Mitglied und seit 2007 in der Europäischen Union. Die Orientierung am Westen hat die Bindung zu Russland nicht abkühlen lassen, weder emotional noch wirtschaftlich. Nach 1989 wurde zwar das Machtmonopol der Bulgarischen Kommunistischen Partei aufgelöst, doch ein konsequenter Elitewechsel fand nicht statt. Bei der Aufarbeitung der eigenen Vergangenheit hat Bulgarien noch einen langen Weg vor sich.