Vom "Blogvater" zum Internet-Skeptiker
9. Oktober 2016Hossein Derakhshan wurde 1975 im Iran geboren, 2001 ging er zum Studium ins kanadische Toronto. Dort begann er unter dem Namen Hoder mit Blogs zu experimentieren und übersetze eine Anleitung zum Bloggen in Farsi - der Beginn einer wahren Blog-Flut. 2004 gehörte der Iran zu den fünf Ländern mit den meisten Bloggern weltweit. Diese lebten allerdings gefährlich. 2008 wurde Hussein Derakhshan von der iranischen Regierung verhaftet. 2014 wurde er durch Ayatollah Khamenei persönlich entlassen. Seit 2015 kritisiert Derakhshan, der in Teheran lebt, in Essays und Vorträgen die Funktionsweise sozialer Medien und den Niedergang politischen Austausches im Netz.
DW: Herr Derakhshan, sechs Jahre lang waren Sie im Gefängnis gezwungenermaßen offline. Das ist nicht nur im Internet eine lange Zeit. Was war Ihre Beobachtung bei Ihrer Rückkehr?
Ich habe eine deutliche Verlagerung festgestellt. Das Internet, das ich kannte, funktionierte dezentral, war sehr facettenreich, es ging darum, mit Hilfe von Hyperlinks, Inhalte zu verbinden, man war neugierig und offen und hat sich mit den Texten auseinandergesetzt. Das Internet, das ich seit 2008 erlebe, ist ganz auf Bilder zugeschnitten, es geht jetzt eher um Unterhaltung als um Diskussionen oder gemeinsames Nachdenken. Heute ist das Internet von den sozialen Netzwerken beherrscht und sehr einheitlich geworden. Die ernsthaften Inhalte erleben einen Niedergang, und damit natürlich auch die politischen.
Was ist denn mit all den Bloggern passiert, mit denen sie damals zusammen gearbeitet haben?
Sehr viele von den iranischen Bloggern und Aktivisten haben bei dieser Entwicklung einfach mitgemacht. Sie scheinen vergessen zu haben, dass Politik mal eine wichtige Rolle in ihrem Leben gespielt hat. Jetzt amüsieren sie sich über die kleinen Geschichten, die sie in sozialen Netzwerken serviert bekommen. Die Leute, die sich für die ernsthaften Nachrichten und Debatten interessieren, werden allgemein immer weniger.
(Anmerkung der Redaktion: Viele der Aktivisten und politischen Blogger im Iran wurden - genauso wie Derakhshan - inhaftiert und sind es bis heute.)
Als sich das Internet in den 1990er Jahren verbreitete, hat es eine Tür aufgestoßen, war eine Plattform für echte Auseinandersetzung. Aber nun, zwanzig Jahre später, schließt sich diese Türe. Das Internet wird zu einer Art Fernsehen, personalisiert, auf verschiedenen Plattformen immer zugänglich, ein Stream. Der allgemeine Trend geht zum Video und das ist ein sehr unzureichendes Medium für komplexe Aussagen. Fernsehen ist das Medium für Demagogen und Populisten.
Sind denn soziale Netzwerke aus ihrer Sicht zu gar nichts gut? Immerhin haben sich doch viele politische Bewegungen der letzten Jahre über soziale Netzwerke organisiert.
Sinnvoll sind sie vielleicht, um Emotionen kund zu tun, Reaktionen auf News zu zeigen. Manchmal kann das auch die Menschen auf die Straße bringen. Schauen Sie sich doch mal die ägyptische Revolution an: Die sozialen Netzwerke haben die Menschen zusammen auf die Straße gebracht, aber was ist dabei herausgekommen? Nachdem das Mubarak-Regime gefallen war, wurden die gleichen sozialen Netzwerke genutzt, um Unruhe und Zwist zu schüren. Genauso wie die sozialen Netzwerke hilfreich sein können, um sich für etwas Positives zu sammeln, können sie Menschen für Negatives mobilisieren. Sie können echte Führung nicht ersetzen.
Wie haben Sie diese Entwicklung im Iran erlebt?
Wie überall sonst auch sind Menschen immer weniger daran interessiert, mehr als ein paar Absätze zu lesen. Man kann das im Iran auch an den niedrigen Auflagenzahlen und der Reichweite der Zeitungen ablesen. Für Printerzeugnisse im Allgemeinen sind die Verkaufszahlen drastisch gesunken. In der exakten gleichen Zeit stiegen im Iran die Zahlen der Social-Media-Nutzer: Instagram ist zum Beispiel sehr beliebt. Auch die Messaging-App "Telegram" ist extrem populär geworden. Mittlerweile hat sie über 20 Millionen Nutzer. Das ist komplett anders als früher, als es mehr um Texte ging und ernsthafte Diskussionen geführt wurden. Viele haben einfach aufgehört zu bloggen, viele Domains sind abgelaufen, das Ganze ist zu einem Blog-Friedhof geworden.
Nutzen Sie denn nun gar keine sozialen Medien?
Doch, ich nutze Twitter. Und Facebook - aber nur rein privat. Twitter lässt vergleichsweise noch am meisten zu. Hyperlinks werden unterstützt und es kann sehr informativ sein, da es auch Verlinkungen zu anderen Seiten zulässt. Bei Instagram geht das gar nicht, und bei Facebook werden Hyperlinks von den Algorithmen nicht bevorzugt. Was bei Facebook und anderen sozialen Netzwerken zieht, sind vor allem Videos.
Was muss denn Ihrer Meinung nach geschehen, um das Internet, wie sie es kannten und schätzten, vor dem Untergang zu bewahren?
Es wird darum gehen, die Vormachtstellung der algorithmen-basierten Zugänge zu Inhalten zu brechen. Die lullen uns ein. Der einzelne kann hier wenig tun, außer unglücklich zu sein mit der Entwicklung und das kund zu tun. Wir müssen sozialen Druck auf diese Unternehmen ausüben und die Regierungen wachrütteln, damit sie dort intervenieren. Zumindest diejenigen Regierungen, die repräsentative Demokratie, eine informierte Bürgerschaft und politische Teilhabe wertschätzen.
Das Interview führte Julia Hitz.