Vom Wunderkind zur Hochstaplerin
31. August 2021Ein Pieks, der Leben retten soll. So vollmundig war das Versprechen, das Elizabeth Holmes, Gründerin des US-Medizin-Unternehmens Theranos, rasant zum gefeierten Wunderkind aufsteigen und dann umso schneller fallen ließ. Bereits wenige Tropfen Blut, so die Ansage, sollten reichen, um mithilfe eines eigens dafür entwickelten Analysegeräts Hormon- und Viruslasten bestimmen, Anomalien entdecken und sogar lebensgefährliche Krankheiten aufspüren zu können. Das Problem: Das Gerät mit dem vielversprechenden Namen Edison hat nie funktioniert.
Holmes kam damit allerdings jahrelang durch. Mehr als zwölf Jahre gaukelte sie Unternehmen, Managern und Milliardären erfolgreich vor, dass die Fähigkeiten von Edison so stark, effizient und kostengünstig seien, dass sie nicht nur lästiges Blutabnehmen erleichtern würden, sondern auch aufwendige und teure Labortests für immer ersetzen. Die amerikanische Drogeriekette Walgreens bot den Service der vermeintlichen Medizin-Revolution sogar in 40 seiner Läden in den US-Bundesstaaten Arizona und Kalifornien an. Vermutlich Hunderttausende Kunden bekamen so ungenaue und zum Teil gefährlich-falsche Blutergebnisse zugestellt.
Der Vorwurf: Betrug an Investoren, Ärzten und Patienten
Dass ihre Masche aufflog, ist vor allem einem Mann zuzurechnen: John Carreyrou, ein investigativer Journalist des Wall Street Journals. Vor rund sechs Jahren bekam er einen Anruf eines ehemaligen Mitarbeiters, der ihn auf die Missstände im Unternehmen aufmerksam machte. Seine Recherchen, Interviews und Publikationen trugen wesentlich dazu bei, Holmes zu entlarven.
Mit der Auswahl der Geschworenen hat nun der Prozess gegen Holmes begonnen. Die Bundesanwälte werfen der inzwischen 37-Jährigen Betrug an Investoren, Ärzten und Patienten vor. Auch ihr ehemaliger Geschäftsführer Ramesh "Sunny" Balwani, der eine Zeit lang ihr Lebenspartner war, sitzt mit auf der Anklagebank. Sollte das Gericht beide für schuldig befinden, drohen ihnen bis zu 20 Jahre Haft und Geldstrafen in Höhe von jeweils mehr als zwei Millionen Dollar.
Luxuriöser Lebenswandel und eine verstellte Stimme
Eine zentrale Frage im Prozess wird sein, ob die Unternehmer vorsätzlich gehandelt haben, um unter Vortäuschung falscher Tatsachen Investorengelder zu ergaunern und sich bei Ärzten und Kunden beliebt zu machen. Auch der luxuriöse Lebenswandel, der beide mutmaßlich immer gieriger werden ließ, steht im Fokus. Die Staatsanwälte fordern deshalb, konkrete und teils intime Details aus Holmes Leben offenzulegen. Vor allem geht es um Reisen in Privatjets, teure Shoppingtouren und regelmäßige Besuche in Luxus-Hotels. Geld dafür hatte sie reichlich: 2015 schätzten die Experten von Forbes ihr Vermögen auf 4,5 Milliarden Dollar.
Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass Holmes sehr genau wusste, wie sie Investoren in ihren Bann ziehen kann. Auf großen Bühnen, bei Vorträgen oder Meetings verstellte sie ihre Stimme bewusst, um tiefer und damit seriöser zu klingen. Ihr Auftreten erinnerte fast immer an ihr großes Vorbild, den Apple-Gründer Steve Jobs, der sie auch in ihrer Kleiderwahl beeinflusste. In ihrem Kleiderschrank befanden sich bewusst nur schwarze Klamotten und Rollkragenpullover, die ihr die Auswahl am Morgen erleichtern sollte, um nicht unnötige Energie zu verschwenden.
Große Namen und einflussreiche Investoren machten mit
Vor allem einflussreiche und wohlhabende Männer wickelte sie so um den Finger. Im Aufsichtsrat von Theranos saßen unter anderem US-Staatsmänner wie Ex-Außenminister George Shultz, der ehemalige Verteidigungsminister James Mattis oder Henry Kissinger. Zu den Investoren wiederum gehörten so prominente Namen wie der Medienmogul Rupert Murdoch, der Silicon Valley-Investor Tim Draper oder die Familie Walton, Gründer der amerikanischen Supermarktkette Walmart. Alle waren fasziniert vom Charisma der ehemaligen Stanford-Studentin - das Studium hatte sie nach nur einem Jahr abgebrochen, um Karriere zu machen.
Geblendet von der Vision und ohne große Prüfung der Geschäftsbücher investierten sie mehr als 700 Millionen Dollar in das Start-up. Zum Höhepunkt ihres Erfolgs im Jahr 2014 wurde Theranos mit stolzen neun Milliarden Dollar bewertet. Selbst ein Jahr später noch kürte das "Time"-Magazin Holmes zu einer der 100 einflussreichsten Menschen der Welt. Regelmäßig war sie auf den Titelseiten der populärsten Wirtschaftsblätter zu sehen.
Was viele nicht sahen oder nicht sehen wollten, wurde für Kritiker wie dem Journalisten John Carreyrou jedoch irgendwann offensichtlich. Etwa dass Edison, das vermeintlich magische Analysegerät, äußerst simpel aufgebaut war. Praktisch bestand die Maschine nur aus einem Roboterarm und unzähligen Pipetten, die im Inneren der bierkastengroßen Maschine aufgereiht waren. Hier mehr als 200 unterschiedliche Bluttests durchzuführen, war schlicht unmöglich, weshalb Theranos heimlich auf die Maschinen der Konkurrenz - vor allem von Siemens - umstieg.
"Wie die Worte einer Chemieschülerin"
Genau davon aber ließ sich Holmes nie etwas anmerken. Nach außen versicherte sie immer, dass sie etwas ganz Großem auf der Spur sei und deshalb nicht viele Details verraten wolle. Angesprochen auf das rudimentäre Design, ließ sie allerdings indirekt durchblicken, wie wenig sie eigentlich von der Technik verstand. "Es klang wie die Worte einer Chemieschülerin und nicht wie die einer anspruchsvollen Laborwissenschaftlerin, die wirklich eine neue Wissenschaft erfunden hatte", schreibt Carreyrou in seinem Buch Bad Blood, in dem er den Fall aufarbeitet.
Holmes wiederum zeigt sich durchweg uneinsichtig. Mithilfe der besten Anwälte des Landes übte sie bis zuletzt rechtlichen Druck auf all jene aus, die gegen sie aussagen oder ihr Unternehmen in Verruf bringen wollten. Viele stempelte sie als Neider ab, während sie weiterhin an ihre Vision glaubte. "Das passiert, wenn man daran arbeitet, Dinge zu ändern: Erst denken sie, du seist verrückt, dann bekämpfen sie dich und dann veränderst du plötzlich die Welt", sagte sie 2018 dem Fernsehsender CNBC.
Auch für den nun beginnenden Gerichtsprozess setzt die 37-Jährige auf Konfrontation. In den vergangenen Tagen schon wurde der Kreis der potenziellen Geschworenen radikal verkleinert, nachdem ihre Anwälte moniert hatten, dass die Mehrheit von ihnen befangen war. "Dreißig bis vierzig Geschworene haben umfangreiches außergerichtliches Material über den Fall und die Angeklagte konsumiert", sagte Kevin Downey, ein Anwalt von Holmes, dem Richter. Schon jetzt zeichnet sich ab: Es wird ein langwieriger und zäher Prozess.
Prozess-Krimi bis zum Schluss
Holmes selbst geht dabei offensiv in die Verteidigung. Am Wochenende wurde bekannt, dass sich die 37-Jährige als Opfer einer jahrelangen missbräuchlichen Beziehung zu Ramesh Balwani, ihrem Geschäftsführer und Ex-Freund, inszenieren wird. Laut nun veröffentlichten Dokumenten plant Holmes einen Experten zu Wort kommen zu lassen, der über den psychologischen, emotionalen und sexuellen Missbrauch aussagt, den sie durch Balwani erfahren musste. Balwani war es, so Holmes, der sie erst kontrolliert und dann manipuliert habe.
Ob sie mit dieser Taktik durchkommen wird, ist allerdings fraglich. Schon mehrfach musste sich Holmes für ihre Taten verantworten und hat dafür eine Teilschuld eingeräumt. Um etwa einem Gerichtsprozess im Jahr 2018 zu entgehen, einigte sie sich auf einen Vergleich mit der US-Börsenaufsicht SEC, die ihr vorwarf "in Investorenpräsentationen, Produktdemonstrationen und Medienartikeln zahlreiche falsche und irreführende Aussagen" über ihr Schlüsselprodukt gemacht zu haben. Holmes musste daraufhin 500.000 Dollar zahlen und einwilligen, in den kommenden zehn Jahren kein börsennotiertes Unternehmen mehr zu leiten.
Was ihr jetzt allerdings zugutekommen könnte: Vor wenigen Wochen hat Holmes ihr erstes Kind auf die Welt gebracht. Geplant oder ungeplant - womöglich ist es ein kluger Schachzug. "Dass sie frischgebackene Mutter ist, kann ihr helfen, die Sympathie der Geschworenen zu gewinnen", sagt Danny Cevallos, Rechtsanalyst bei NBC News. "Im Falle einer Verurteilung werden ihre Anwälte ihre Mutterschaft vor dem Richter in den Vordergrund stellen, selbst wenn die Richtlinien für die Verurteilung eine Haftstrafe vorsehen."