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Warum lassen sich Menschen auf Schlepper ein?

2. Juli 2023

Etwa 90 Prozent der Menschen, die versuchen, die Außengrenzen der EU illegal zu überqueren, nutzen die Hilfe von Schleppern. Wer sind diese Schlepper und warum vertrauen Migranten und Geflüchtete ihnen ihr Leben an?

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In Decken gehüllte Menschen blicken auf das Meer
Diese Menschen wurden vom Rettungsschiff "Golfo Azurro" aus dem Mittelmeer gerettetBild: MINDS Global Spotlight/AP/Santi Palacios/picture alliance

Nach Schätzungen von Europol, der Polizeibehörde der Europäischen Union, greifen 90 Prozent der Menschen, die illegal die Außengrenzen der EU überqueren, auf die Dienste von Schleppern zurück. Das kann für den gesamten Weg gelten oder nur für Teile davon.

"Genaue Zahlen zu diesen irregulären Bewegungen lassen sich nur schwer ermitteln", stellte das Europäische Parlament 2021 in einem Bericht fest. Obgleich kein Zweifel bestehe, dass die Geschäfte der Schlepper florieren, heißt es in dem Bericht weiter, komme die Mehrzahl der Menschen über legale Wege von außerhalb in die EU.

Doch wie arbeiten die Schleuser, Schlepper oder Menschenschmuggler, die Menschen über das Mittelmeer nach Europa bringen? Und wer sind diejenigen, die sich ihnen in der Hoffnung auf ein besseres Leben anvertrauen?

Menschenschmuggel oder Menschenhandel?

"Von Menschenschmuggel spricht man, wenn eine internationale Grenze illegal überquert wird und die Menschen für die Reise bezahlt haben", erklärt Lucia Bird der DW. Sie ist leitende Analystin bei der Global Initiative Against Transnational Organized Crime, einer unabhängigen zivilgesellschaftlichen Organisation mit Sitz in der Schweiz. "Der Menschenhandel dagegen geschieht gegen den Willen der betroffenen Person und kann auch innerhalb eines Landes oder einer Region stattfinden."

Laut Bird werden Migranten und Gefüchteten "während der Reise von den Schleppern häufig missbraucht und ausgebeutet". Sie fügt hinzu, dass "Vereinbarungen, die zunächst einvernehmlich zwischen dem Migranten und dem Schlepper getroffen wurden, in Menschenhandel münden können". Wenn Menschen die Dienste eines Schleppers für die illegale Grenzüberquerung in Anspruch nähmen, sei dies in den meisten Fällen jedoch erfolgreich.

Kenterndes Boot mit Migranten und Geflüchteten im Mittelmeer
Wie viele Menschen jährlich im Mittelmeer ertrinken, weiß niemand Bild: MINDS Global Spotlight/Italian Navy/picture alliance

Im jüngsten Weltmigrationsbericht wurden 2021 etwa 281 Millionen Menschen als internationale Migranten eingestuft. Das sind etwa 3,6 Prozent der Weltbevölkerung. Der Bericht wird alle zwei Jahre aktualisiert.

Wie arbeiten die Schlepper?

Im Grunde genommen sind die Menschenschmuggler Dienstleister, die den Transport von Menschen anbieten. Zu diesem Zweck unterhalten die Schlepper Netzwerke von Einheimischen, die auch in abgelegenen Ortschaften über ihr Angebot informieren. Ortskundige helfen den hoffnungsvollen Menschen, zum nächstgelegenen Abfahrtsort zu gelangen. Andere verstehen sich auf das Fälschen von Papieren. Auch die Boote und die benötigte Besatzung werden von den Schleppern organisiert.

"Schlepper bieten Lösungen an, zum Beispiel bei der Überwindung natürlicher oder politischer Hindernisse, die alleine nur sehr schwer oder überhaupt nicht zu bewältigen sind. Dazu gehören die Überfahrt über das Mittelmeer oder der Zugang zu Visa mit gefälschten Dokumenten", erklärt Bird.

"Diese Netzwerke sind erfolgreich, weil sie in einem Umfeld operieren, in dem Verständnis für die Gründe einer Migration gezeigt wird. Das betrifft insbesondere Tunesien und Libyen", betont Sami Hamdi, Geschäftsführer von The International Interest, einem Anbieter globaler Risikoanalysen. Die Beamten vor Ort erhielten sicherlich auch Bestechungsgelder dafür, dass sie wegsehen, erklärt er. Doch oft hätten sie auch Verständnis für die Menschen, die ihrem trostlosen Dasein entkommen wollen. Schließlich entstammten sie häufig denselben sozioökonomischen Umständen.

Wer vertraut sich den Schleppern an?

"Es reisen Menschen aus allen sozialen Schichten mit den Schleppern", sagt Jan Egeland. Er ist Generalsekretär der Norwegischen Flüchtlingshilfe, die die Arbeit humanitärer Organisationen in mehr als 30 von Konflikten und Katastrophen betroffenen Ländern beaufsichtigt. Insbesondere unter den Migranten und Geflüchtete, die das Mittelmeer überqueren, fänden sich viele Familien, die "sich im Grunde in das Mittelmeer werfen in der Hoffnung, das andere Ufer zu erreichen, weil sie sonst keine Chance sehen, ihren Kindern ein besseres Leben bieten zu können".

Geflüchtete in Schwimmwesten auf einem Boot im Mittelmeer
Viele der Boote, in denen sich die Menschen auf das Meer wagen, sind kaum seetüchtigBild: Joan Mateu Parra/AP/dpa

Darunter seien natürlich auch viele junge Männer, fügt Egeland im DW-Gespräch hinzu. "Die Reise allein vom Jemen oder von Somalia bis zum Mittelmeer ist extrem anstrengend!" Verschiedene Statistiken zeigen tatsächlich, dass die Zahl der Männer die der Frauen leicht übersteigt.

"In der Heimat legen die Familien oft zusammen, um einen Schlepper für die Reise eines jungen Familienmitglieds zu bezahlen", erklärt Hamdi. "Sie hoffen, dass dieser später Geld nach Hause schicken oder zu einem späteren Zeitpunkt sogar den legalen Umzug der Familie ermöglichen kann." Er habe mit Familien in Nordafrika gesprochen, die Angehörige auf die hochgefährliche Reise geschickt hatten. "Wenn ich sie auf das tödliche Risiko ansprach, lautete die Antwort zumeist, sie seien bereits tot, auch wenn sie noch leben und atmen würden."

Warum machen sich Menschen auf die gefährliche Reise?

Artikel 14 der Allgemeinen Deklaration der Menschenrechte mag jedem Menschen das Recht geben, "in anderen Ländern vor Verfolgungen Asyl zu suchen und zu genießen", doch nicht jeder Mensch hat nach den geltenden rechtlichen Rahmenbedingungen und Asyldefinitionen auch Anspruch auf Asyl. Ohnehin beginnt der Asylprozess erst, wenn jemand zum Beispiel nach Überquerung des Mittelmeers in der Europäischen Union angekommen ist, nicht bereits vorher.

"Menschen, die keine oder wenige Wahlmöglichkeiten haben, wenn es darum geht, ein Leben in Würde und Sicherheit zu leben, ziehen auch sehr gefährliche und riskante Wege mit Schlepperbanden in Betracht. Für sie gibt keine legale und sichere Route", unterstreicht Nadia Hardman, die bei Human Rights Watch zu den Rechten von Flüchtlingen und Migranten forscht. Für sie ist die Entscheidung von Menschen, sich an Schlepper zu wenden, gar nicht so freiwillig. "Gewöhnlich will niemand seine Heimat verlassen, aber wenn man verzweifelt ist, nutzt man jede Gelegenheit, die sich einem bietet".

Diese Ansicht teilt auch Egeland: "Menschenschmuggler sind rücksichtslose Unternehmer. Sie nutzen die Verzweiflung der Menschen aus. Solange es keinen legalen Weg gibt, über den sie Europa erreichen können - oder über den die Menschen in Zentralamerika die Vereinigten Staaten erreichen können - wird es immer jemanden geben, der damit Geld macht."

Wieviel kosten die Dienste eines Schleppers?

Der Menschenschmuggel wird durch Angebot und Nachfrage sowie von der Höhe des Risikos bestimmt. "Es ist ein Dienstleistungsmarkt", sagt Bird von der Global Initiative Against Transnational Organized Crime. "Der Preis geht nach oben, wenn die Route stark von Gesetzeshütern kontrolliert wird. Ist die Nachfrage gerade gering, sinken die Preise und die Schlepper bieten häufig Anreize, wie etwa einen Gruppenrabatt", erklärt sie.

Für die Route zwischen Nordafrika und Europas nächstgelegenen Küsten in Italien und Griechenland beträgt der Preis zwischen 3000 und 10.000 Euro, manchmal mehr, weiß Hamdi. "Das beinhaltet auch die Reise an die nordafrikanische Küste und die Mittelmeerüberquerung."

Da diese Menschen jedoch häufig nicht über die Mittel verfügen, die Kosten vollständig zu zahlen, würden sie oft missbraucht, ausgebeutet und manchmal auch versklavt, berichtet Hamdi der DW. Nicht wenige würden gezwungen, ihre Schulden abzuarbeiten. Die Glücklicheren könnten in den Grenzstädten bei Gelegenheitsarbeiten schuften, um ihre Schulden zu tilgen und etwas Geld für den nächsten Abschnitt der Reise anzusparen.

Adaptiert aus dem Englischen von Phoenix Hanzo.

Jennifer Holleis
Jennifer Holleis Redakteurin und Analystin mit Schwerpunkt Naher Osten und Nordafrika.