Apps schützen Brasilianer vor Schießereien
6. Dezember 2020In dieser Woche wurde das südamerikanische Land gleich von zwei filmreifen Banküberfällen erschüttert. In der Nacht zum Dienstag überfielen schwer Bewaffnete im südbrasilianischen Criciúma mehrere Banken und versetzen dabei die Einwohner in Angst und Schrecken. Bürgermeister Clésio Salvaro rief die Bürger in den sozialen Netzwerken auf, ihre Häuser nicht zu verlassen. Medienberichten zufolge nahmen die Kriminellen während der gut einstündigen Aktion mehrere Unbeteiligte als Geiseln und benutzten sie als menschliche Schutzschilde. Die Opfer seien aber alle unverletzt freigekommen.
Ein Bankraub am nächsten Tag in der nordbrasilianischen Stadt Cametá lief nicht so glimpflich ab. Als gut 20 Verbrecher eine Bankfiliale stürmten und Geiseln nahmen, wurde ein Unschuldiger erschossen, eine weitere Person verletzt. Die Räuber konnten entkommen.
Nun sind zwei so spektakuläre Überfälle in kurzer Zeit selbst in Brasilien außergewöhnlich - und sorgten entsprechend für Schlagzeilen. Dennoch gehört bewaffnete Gewalt in dem Land zum Alltag - seien es Überfälle wie diese, Schießereien zwischen Drogenbanden oder Milizen, oder etwa Schusswechsel bei Polizeirazzien.
Push-Nachrichten und eine Straßenkarte
Allein in diesem Jahr gab es bislang im Bundesstaat Rio de Janeiro mindestens 3000 Schießereien. Das geht nicht etwa aus Behördeninformationen hervor, sondern aus Daten von "Onde Tem Tiroteio" (OTT), einer Crowdsourcing-App, in der Nutzer vor Schießereien gewarnt werden und in der sie selbst welche melden können. "Onde Tem Tiroteio" heißt übersetzt "Wo ist eine Schießerei" und wurde 2016 von vier Freunden in Rio de Janeiro ins Leben gerufen.
"Wir haben alle schon brenzlige Vorfälle erlebt und uns ist aufgefallen, dass es keine Möglichkeit gab, sich in Echtzeit über gefährliche Straßen und Situationen zu informieren", erklärt Dennis Coli, der Programmierer ist und sich um das Technische und die Öffentlichkeitsarbeit kümmert. "Unser Hauptziel ist, dass die Menschen sich mit unserer Hilfe sicherer von A nach B bewegen können."
Colis Mitstreiter Benito Quintanilha, Henrique Coelho und Marcos Baptista kümmern sich sozusagen ums Tagesgeschäft. Sie versuchen, Angaben über Schießereien zu verifizieren. Nutzer erhalten Push-Nachrichten auf ihr Smartphone, wenn in ihrem Umkreis etwas passiert. In der App lesen sich die Meldungen über Schusswechsel in der Nähe ähnlich wie ein Ticker, zudem kann man sie auf einer Straßenkarte lokalisieren.
Apps verdeutlichen Dimension der Gewalt
Eine vergleichbare Anwendung ist "Fogo Cruzado" ("Kreuzfeuer"), die von der Journalistin Cecília Olliveira in Zusammenarbeit mit Amnesty International entwickelt wurde. "Fogo Cruzado" sammelt noch mehr Daten als OTT, etwa ob Sicherheitskräfte involviert waren und wie viele Tote und Verletzte es gab. 2020 haben demnach bereits fast 800 Menschen allein im Bundesstaat Rio de Janeiro bei Schießereien ihr Leben gelassen.
Zwar bereitet OTT die Daten auch auf und stellt sie auf Anfrage Journalisten und Behörden zur Verfügung - doch im Mittelpunkt steht eindeutig der Nutzen als akuter Schutz. Dagegen verfolgt "Fogo Cruzado" von Beginn an auch das Ziel, die Dimension des Gewaltproblems der Gesellschaft und politischen Akteuren vor Augen zu führen.
Verifizierung durch Helfernetz
Während "Fogo Cruzado" zudem mehr Ressourcen sowie festangestellte Mitarbeiter hat, verzeichnet OTT mehr Nutzer. So wurde "Fogo Cruzado" bislang 250.000 Mal heruntergeladen, OTT schon 1,2 Millionen Mal. In den sozialen Netzwerken erreichen Coli, Quintanilha, Coelho und Baptista nach eigenen Angaben 4,5 Millionen Menschen.
Coli sieht OTT und "Fogo Cruzado" grundsätzlich nicht als Konkurrenten, sondern einfach als zwei Angebote, die jeweils "mit ihren Möglichkeiten" helfen können. Die größere Akzeptanz von OTT führt der 40-Jährige indessen auf die Nähe zu den Menschen zurück: "Bei uns sind es die Nutzer selbst, die uns Vorfälle melden. Und bei der Verifizierung greifen wir auch wieder auf Leute vor Ort zurück. Erhalten wir zum Beispiel die Nachricht von einer Schießerei in der Rocinha [Anm.d.Red.: Favela in Rio de Janeiro], geben wir das an unsere dortige Vertrauensgruppe weiter, das sind dann etwa Anwohner und Taxi- oder Uberfahrer aus dem Viertel."
Beide Anwendungen sind mittlerweile nicht mehr nur in Rio de Janeiro verfügbar. Fogo Cruzado ist auch in der nordöstlichen Großstadt Recife aktiv, und OTT im Bundesstaat São Paulo. Das langfristige Ziel ist, überall im Land Menschen vor Schießereien warnen zu können. Bedarf gäbe es sicherlich vielerorts, denn mit Zehntausenden Tötungsdelikten im Jahr gilt Brasilien als eines der gewalttätigsten Länder der Welt.
Wenn Angst vor Gewalt das Leben bestimmt
"Eigentlich ist es traurig, dass die Menschen überhaupt so etwas wie unsere App brauchen", findet Dennis Coli, "Je nachdem, was für Wege ich etwa in Rio zurücklegen muss, kann ich nie sicher sein, ob ich nicht in eine Schießerei gerate und von einer Kriegswaffe getroffen werde. Das ist leider Alltag für die Cariocas [Anm.d.Red.: Bezeichnung der Bewohner Rio de Janeiros] und für viele andere Menschen in Brasilien."
Coli selbst hat der Gedanke an das Risiko, dem er sich als Familienvater tagtäglich in Rio de Janeiro aussetzte, irgendwann zu sehr belastet: Er zog mit seinen Angehörigen in die USA. "Ich habe Rio für mich aufgegeben. Ich liebe die Stadt, sie ist wunderschön. Aber die Kriminalität schränkt dein Leben einfach zu sehr ein."
Auf die Frage, ob also wirklich kaum ein Tag ohne Schießereien in der Stadt vergehe, sagt er: "Das wäre mein größter Traum. Aber bislang hat es diesen Tag leider noch nicht gegeben."