Wie der Bundestag an Größe verlieren soll
Veröffentlicht 20. Januar 2023Zuletzt aktualisiert 17. März 2023An diesem Freitag haben SPD, Grüne und FDP mit ihrer Mehrheit im Bundestag eine Reform des Wahlrechts in Deutschland beschlossen. Damit soll das deutsche Parlament nach der nächsten Wahl nur noch 630 Sitze haben. Derzeit ist kein anderes demokratisch gewähltes Parlament der Welt so groß wie der Deutsche Bundestag mit seinen 736 Abgeordneten.
Das liegt am komplizierten Wahlsystem. In Deutschland wird nach dem System der personalisierten Verhältniswahl abgestimmt. Jeder Wähler kann auf dem Wahlzettel zwei Kreuze machen. Eines für den Vertreter des Wahlkreises. Da gilt: Wer die meisten Stimmen erhält, kriegt sicher ein Mandat im Bundestag. Mit der zweiten Stimme wird ein Listenkandidat der Partei gewählt. Die Zweitstimme ist entscheidend und bestimmt über die relative Stärke der Parteien untereinander. Gewinnt eine Partei mehr Direktmandate, als ihr aufgrund der Zweitstimmenergebnisse zustehen, entstehen sogenannte Überhang- und Ausgleichsmandate. Bei der jüngsten Bundestagswahl 2021 waren das insgesamt 138 Sitze extra.
Die Zweitstimme entscheidet
Nach den Plänen von SPD, Grünen und FDP wird es zukünftig keine Überhang- und Ausgleichsmandate mehr geben - so soll der Bundestag schrumpfen. Die Reform könnte zur Folge haben, dass in einem Wahlkreis direkt gewählte Abgeordnete keinen Sitz im Bundestag erhalten. Denn die Wahlkreisgewinner erhalten ihr Mandat nur dann, wenn auch das Ergebnis der Zweitstimme für ihre Partei entsprechend hoch ist.
Auch die sogenannte Grundmandatsklausel soll wegfallen. Sie ermöglicht einer Partei beim Gewinn von mindestens drei Direktmandaten den Einzug in den Bundestag entsprechend ihres Anteils der Zweitstimmen - auch dann, wenn sie an der Fünf-Prozent-Hürde scheitert. Davon hatte bei der Wahl 2021 die Partei die Linke profitiert. Sie konnte mit 4,9 Prozent der Stimmen 39 Sitze beanspruchen. Die Fünf-Prozent-Hürde soll dafür sorgen, dass nicht zu viele kleine Parteien in den Bundestag einziehen.
Nur der Volkskongress in China ist größer
Die drei Regierungsparteien hatten sich in ihrem Koalitionsvertrag dazu verpflichtet, das Parlament schrumpfen zu lassen. An dieser Aufgabe haben sich deutsche Politiker bereits mehr als ein Jahrzehnt lang die Zähne ausgebissen. Unterdessen wuchs der Bundestag immer weiter. In der 15. Legislaturperiode - von 2002 bis 2005 - waren es noch 603 Abgeordnete. In den darauffolgenden vier Jahren schon 614. Und so fort. Der Bundestag wurde zum Blähparlament in XXL-Größe mit nun 736 Abgeordneten.
Mit dem derzeitigen System leistet sich Deutschland das weltweit zweitgrößte Parlament. Nur der chinesische Volkskongress ist noch größer. Aber dessen rund 3000 Entsandte - nicht demokratisch gewählt - sollen immerhin rund 1,4 Milliarden Chinesen vertreten.
Kein Verständnis für Übergröße
Bei den Deutschen herrscht Unverständnis über den XXL-Bundestag. Sie wollen, dass er verkleinert wird. Das hat auch eine Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Allensbach ergeben. 78 Prozent der Deutschen sind demnach der Meinung, dass das Parlament zu viele Abgeordnete habe und verkleinert werden sollte. Die hohen Ausgaben seien unnötig und teuer. Im Bundeshalt 2023 sind inklusive aller Nebenkosten rund 1,4 Milliarden Euro als Ausgaben für den Bundestag vorgesehen, berichtet Klaus Stüwe. Es sei den Wählern kaum noch zu vermitteln, "warum sich die Wahlrechtsreform schon seit so vielen Jahren hinzieht".
Die Krux: Das Parlament kann nur selbst beschließen, sich zu verkleinern. "Alle Parteien sehen zwar die Notwendigkeit einer Verkleinerung, aber sie achten zugleich peinlich darauf, dass sie selbst bei einer Reform keine Nachteile haben", sagt Klaus Stüwe der DW. Er ist Inhaber des Lehrstuhls für Vergleichende Politikwissenschaft an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt.
Scharfe Kritik aus der Opposition
Als "Betrug am Wähler" bezeichnete CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt die geplante Reform am Mittwoch im ARD-Fernsehen. "So ein respektloses Wahlrecht muss beim Verfassungsgericht landen", kündigte er eine Klage in Karlsruhe an. Die konservative CSU, die nur im Bundesland Bayern antritt, hatte von der bisherigen Regelung profitiert. Und könnte nun zum Verlierer werden. Fiele sie bundesweit unter fünf Prozent, wäre sie nicht mehr im Bundestag vertreten. Selbst wenn ihre Direktkandidaten in mehreren bayerischen Wahlkreisen auf Platz eins landeten.
Das deutsche Wahlrecht ist kompliziert, räumen auch Experten ein. Der Grünen-Politiker Till Steffen berichtet, an Infoständen erlebe er immer wieder, dass die "Wähler das System mit Erst- und Zweitstimme nur schwer verstehen". FDP-Parlamentarier Konstantin Kuhle sieht im DW-Interview einen Grund darin, dass "Deutschland ein Land ist, das in hohem Maße vom Föderalismus geprägt ist". Die "Besonderheiten der Länder" hätten also immer berücksichtigt werden müssen. Dadurch sei das Wahlsystem in Deutschland so kompliziert geworden und unterscheide sich auch noch bei Kommunal-, Landtags- oder Europawahlen.
Wie stehen die Chancen für die Reform?
Theoretisch könnte nun alles ganz schnell gehen. Die Koalition benötigte bei der Abstimmung über ihren Vorschlag nur eine einfache Mehrheit im Bundestag. Der Chef der SPD-Fraktion im Bundestag, Rolf Mützenich, sagte am Dienstag, die Reform entspreche "den großen Wünschen der Bürgerinnen und Bürger". Ob die Reform der Ampel-Koalition dauerhaft das deutsche Wahlrecht ändert, darüber wird am Ende aber wohl das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe entscheiden.
Dieser Artikel wurde am 20.1.2023 veröffentlicht und nach der Bundestagsentscheidung aktualisiert