Wie ein Künstler an Fukushima erinnert
10. März 2021Vor zehn Jahren hielt die Welt den Atem an. In der japanischen Präfektur Fukushima ereignete sich ein Erdbeben, das einen Reaktorunfall im Kraftwerk Fukushima Daiichi und eine Naturkatastrophe an der Küste Japans auslöste. Die Kernschmelze und die nukleare Verseuchung eines großen Gebiets rief Erinnerungen an die Nuklearkatastrophe von Tschernobyl im Jahr 1986 wach.
In der Zeit danach dokumentierte der Künstler und Filmemacher Hikaru Fujii die politische und ökologische Krise, die der Unfall im Atomkraftwerk verursacht hatte. Fujii stellt in seiner künstlerischen Arbeit eine enge Beziehung zwischen Geschichte und Gesellschaft her. 2019 schuf er das Projekt "Les nucléaires et les choses" (dt. Die Kernkraft und die Dinge), in dem er die Geschichte der unmittelbar betroffenen Orte rekonstruierte. Er konzentrierte sich dabei auf die Folgen der Katastrophe, um eine Diskussion über Erinnerung in Gang zu bringen.
In seiner neuesten Videoinstallation "A Class Divided" (dt. Eine gespaltene Klasse), die in der Kunstausstellung in Mito - rund 150 Kilometer südlich des Katastrophengebiets Fukushima - zu sehen ist, thematisiert Fujii nicht nur das Trauma, sondern auch die Diskriminierung, die mit der Katastrophe einhergegangen ist.
Dieses Werk ist inspiriert von dem Experiment "Blaue Augen, braune Augen", das die amerikanische Pädagogin Jane Elliott in den 1960er Jahren, nach der Ermordung von Martin Luther King, mit ihrer Schulklasse durchführte. Sie teilte die Grundschülerinnen und -schüler in zwei Gruppen ein, Blauäugige und Braunäugige, und bevorzugte die Blauäugigen, um den Kindern nahezubringen, wie Rassismus funktioniert. In der Kunstinstallation von Hikaru Fujii teilt ein japanischer Lehrer die Schulkinder ebenfalls in zwei Gruppen ein: Die innerhalb der radiokativ verseuchten Zone lebenden Kinder haben einen minderwertigen Status, während die anderen die Überlegenen sind.
DW: Was kommt Ihnen als Erstes in den Sinn, wenn Sie an die Katastrophe vom 11. März 2011 denken?
Hikaru Fujii: Das erste, was ich tun wollte, war, die Katastrophe zu dokumentieren. Ich steckte gerade mitten in Dreharbeiten, als das Erdbeben passierte, also habe ich sofort angefangen, die Situation zu filmen.
Wie fühlte sich diese Zeit für Sie an?
Es war sehr schwierig für mich, ein Kunstwerk zu schaffen, nachdem sich eine solche Katastrophe ereignet hat. Ich begann deshalb zu fotografieren, nicht in künstlerischer Absicht, sondern allein, um die Situation zu dokumentieren.
Warum beschäftigen Sie sich in ihrer jüngsten Videoarbeit mit dem Thema Diskriminierung?
In der japanischen Gesellschaft wurde das Thema Diskriminierung direkt nach dem Erdbeben und dem Atomunfall viel diskutiert. Es war schwierig für mich, zu dem Thema zu arbeiten, weil es eine sensible Angelegenheit ist. Aber jetzt leben wir in einer Gesellschaft, die vom Coronavirus aus ihren Angeln gehoben wurde, und wir alle sind in einer Situation, in der wir diskriminieren und diskriminiert werden. Ich dachte, dass diese Situation eine gute Gelegenheit böte, dieses Kunstwerk zu schaffen.
Sie haben sich entschieden, das Video mit zehnjährigen Kindern zu drehen. Wie kam es dazu?
Diese Kinder haben keinerlei Erinnerung an das, was vor zehn Jahren passiert ist. Um die Erinnerung an die Katastrophe und den Atomunfall an zukünftige Generationen weiterzugeben, dachte ich, es wäre eine große Herausforderung, einen Weg zu finden, die Katastrophe denen zu vermitteln, die keine Erinnerung daran haben. Deshalb habe ich sie gebeten, an diesem Projekt teilzunehmen. Außerdem war es mir ein Anliegen, diese Kinder auf künftige Katastrophen vorzubereiten.
Finden Sie es immer noch herausfordernd über den 11. März zu sprechen?
Auch nach zehn Jahren ist es in Japan noch ein Tabu, über die Katastrophe von Fukushima zu reden. Alle schweigen darüber. Es gibt politische, wirtschaftliche und sehr persönliche Zwänge. Es hat auch mit der Angst zu tun, alte Wunden wieder aufzureißen. Ich bin mir nicht sicher, ob es der Gesellschaft hilft, wenn ich mich als Künstler mit den Folgen von Fukushima auseinandersetze, aber ich möchte es dennoch auch weiterhin tun, als eine ganz persönliche Herausforderungen.
Das Gespräch führten Anja Freyhoff-King und Aimie Eliot.
Adaption: Sabine Oelze