Corona-Gefahr wurde wochenlang unterschätzt
17. Mai 2020Die Zeitung "Welt am Sonntag" und das Rechercheteam des Bayerischen Rundfunks sind gemeinsam der Frage nachgegangen, warum die Gefahr durch das neue Coronavirus SARS-CoV-2 nicht früher erkannt wurde, warum man sich in der Bundesrepublik lange in Sicherheit wähnte und warum Wochen vergingen, bis die Regierung erste Maßnahmen zur Bekämpfung der Infektionen ergriffen hat. Dabei stießen die Rechercheure nach eigenen Angaben auch auf vertrauliche Dokumente, die sie zu einer Rekonstruktion der Ereignisse nutzten.
Am 31. Dezember 2019 verschickte das internationale Frühwarnsystem ProMED eine E-Mail, in der auf eine unbekannte Form der Lungenentzündung in China hingewiesen wird. Die Meldung zum neuartigen Coronavirus ging auch nach Berlin ans Robert Koch-Institut. Dies war der Startschuss für einen Wettlauf gegen die Zeit und gegen das, was später zur Pandemie wurde. Für einen solchen Fall habe die Bundesregierung eine Art Blaupause – ein Papier aus dem Jahr 2012, den "Bericht zur Risikoanalyse im Bevölkerungsschutz", schreiben die beiden Medien. Darin stehe, was im Falle einer Pandemie zu tun sei, zum Beispiel Schulen schließen und Großveranstaltungen absagen. Bekanntlich vergingen jedoch mehrere Wochen, bis die Verantwortlichen in der Politik solche Maßnahmen umsetzten.
Nicht schlimmer als eine Grippe?
Bundesgesundheitsminister Jens Spahn sagte am 23. Januar 2020 im Fernsehen: "Der Verlauf hier, das Infektionsgeschehen, ist deutlich milder, als wir es bei der Grippe sehen." Ende Januar traten die ersten Infektionsfälle in Deutschland auf – die meisten mit einem milden Krankheitsverlauf. Der behandelnde Arzt, Prof. Clemens Wendtner von der München Klinik Schwabing, sagte dazu dem Bayerischen Rundfunk: "Hätten wir ganz schwer symptomatische Patienten gehabt, hätte man die Gefährlichkeit vielleicht anders eingestuft." Auch Berliner Regierungsbeamte seien später zu dieser Einschätzung gelangt. Die ersten Infektionen in Deutschland hätten zu einem Trugschluss geführt: Seht, wir können es eindämmen.
Als es am 29. Januar bereits weltweit Verdachtsfälle gab, kam der Gesundheitsausschuss im Deutschen Bundestag in Berlin zusammen. Das Thema Coronavirus wurde dort erst als Tagesordnungspunkt 5b am Ende der Sitzung behandelt. Der Chef des Robert Koch-Instituts, Lothar Wieler, beklagte die "mangelhafte Informationspolitik Chinas". Es sei immer noch nicht genau geklärt, wie das Virus übertragen werde.
Bericht anscheinend nicht ernstgenommen
Über die "Risikoanalyse zum Bevölkerungsschutz" aus dem Jahr 2012 sei in dieser Sitzung laut Protokoll nicht gesprochen worden, heißt es in dem Bericht. Der Gesundheitswissenschaftler Gerd Glaeske von der Universität Bremen hält das für ein Versäumnis: "Im Prinzip hat man diesen Bericht nicht ausreichend zur Kenntnis genommen und hat letzten Endes nicht darauf reagiert, dass man längst Vorkehrungen getroffen hat für die nächste Epidemie oder Pandemie."
Knapp zwei Wochen später, am 12. Februar, sagte Minister Spahn im Gesundheitsausschuss, die Gefahr einer Pandemie sei "eine zurzeit irreale Vorstellung". Achim Kessler, Obmann der Linken im Gesundheitsausschuss, kritisierte, es habe eine Phase gegeben, in der das Ganze heruntergespielt worden sei. "Es wurde uns mitgeteilt, es gäbe in Deutschland Pandemiepläne für die Influenza. Und diese würden jetzt umgestellt auf das Coronavirus, und das sei alles vollkommen unproblematisch", sagt er dem Bayerischen Rundfunk.
Faschingsfeiern und Lockdown-Pläne
Bereits Ende Februar, also früher als bisher bekannt, habe es in der Bundesregierung Überlegungen zu einem Lockdown gegeben, schreiben die Rechercheure der beiden Medien. Im Innenministerium sie die Frage kursiert: Drohen Folgen für die innere Sicherheit? Während sich in vielen Ländern das Virus ausbreitete, feiert man in Deutschland noch Karneval und Fasching. Am 26. Februar seien im Bundesinnenministerium Experten zusammengetroffen. Das Protokoll zu dem Treffen ist als Verschlusssache eingestuft, liegt dem Sender und der Zeitung aber vor. Bei dem Treffen sei unter anderem darüber gesprochen worden, dass der Vorrat an Masken knapp werde. Zudem sie über ein mögliches Exportverbot für Schutzausrüstungen diskutiert worden.
Am 2. März kam der Gesundheitsausschuss zu einer Sondersitzung zusammen. Darin hätten die Abgeordneten auch über die Absage von Großveranstaltungen gesprochen. Gesundheitsminister Jens Spahn machte klar, dass die Behörden vor Ort entscheiden sollte – "ohne dass man belehrend aus Berlin kommt", heißt es im Protokoll. Bis zu einer Empfehlung des Ministers, Großveranstaltungen abzusagen, verging danach fast eine Woche.
78 lange Tage
Am 11. März rief die Weltgesundheitsorganisation WHO den Pandemiefall aus. Eine Woche später, am 18. März, konstatiert Bundeskanzlerin Angela Merkel in einer Fernsehansprache: "Es ist ernst. Nehmen Sie es auch ernst. Seit der Deutschen Einheit, nein, seit dem Zweiten Weltkrieg gab es keine Herausforderung an unser Land mehr, bei der es so sehr auf unser gemeinsames solidarisches Handeln ankommt."
Inzwischen sind hierzulande 7914 Menschen im Zusammenhang mit dem neuen Coronavirus gestorben. Deutschland kam trotzdem im internationalen Vergleich relativ gut durch die Corona-Krise. Klar sei aber auch, von der ersten Meldung im Frühwarnsystem ProMED bis zu entschlossenen Maßnahmen seien 78 Tage vergangen, heißt es in dem Medienbericht.
kle/ml (br.de, welt.de, tagesschau.de)