Wie Deutschland in den zweiten Corona-Herbst geht
10. Oktober 2021Das "Berghain", Berlins berühmtester Tanztempel, ist wieder offen. Berichten zufolge gab es drinnen die altbekannte Mischung aus Musik und Ekstase. SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach, bekannt für seine ansonsten immer mahnenden Worte zur Pandemie, begrüßte den Schritt. Die Öffnung des Clubs für Genese und Geimpfte sei "großartig". Es werde wohl auch zu Infektionen mit COVID-19 kommen. "Aber diejenigen, die geimpft sind, werden nicht so schwer erkranken. Von daher kann man das riskieren."
Ist Deutschland also schon über dem Berg - die Pandemie überstanden? Auch Jens Spahn, Noch-Gesundheitsminister der scheidenden Bundesregierung, zeigte sich bei einer Pressekonferenz optimistisch: Die Pandemie-Lage sei so, dass "wir derzeit gut damit umgehen können".
So scheinen auch die meisten Deutschen zu denken. Eine Umfrage des Meinungsforschungsinstituts "Infratest Dimap" ergab: Mit 42 Prozent machen sich derzeit deutlich weniger Bundesbürger Sorgen vor einem erneut deutlichen Anstieg der Infektionszahlen als noch im Sommer. Damals lag der Wert bei 62 Prozent.
Neue Welle gestoppt
Ein Blick auf die Zahlen zeigt, dass Deutschland in der Tat die sich im Sommer abzeichnende vierte Infektionswelle ganz gut abbremsen konnte. Die Sieben-Tage-Inzidenz der Neuinfektionen liegt seit einiger Zeit auf einem Plateau bei 60 plus x pro 100.000 Einwohner. Die Fallzahlen stagnieren. Allerdings liegen sie höher als im gleichen Zeitraum 2020.
Doch die Inzidenz ist nicht mehr der alleinige Maßstab. Bund und Länder haben sich im Sommer darauf geeinigt, auch die sogenannte Hospitalisierungsrate zur Beurteilung des Infektionsgeschehens heranzuziehen. Aktuell liegt diese Kennziffer bei rund 1,6 Krankenhauseinweisungen auf 100.000 Einwohner innerhalb einer Woche - und damit im grünen Bereich. Auch die Lage auf den Intensivstationen ist wenig alarmierend: Der Anteil der COVID-Patienten auf den Intensivstationen liegt fast überall im einstelligen Prozent-Bereich.
Doch der Blick hinter die Prozent-Zahlen zeigt eben auch: Das Virus ist weiterhin aktiv und prägt individuelle Schicksale. Auf der Corona-Landkarte des Robert Koch-Instituts (RKI), der nationalen Gesundheitsbehörde, sind mehr als vier Dutzend Landkreise oder Städte mittel- oder dunkelrot markiert, was Inzidenzen über 100 oder sogar 200 entspricht. In den Krankenhäusern im bevölkerungsreichsten Bundesland Nordrhein-Westfalen werden aktuell immerhin rund 280 COVID-Patienten (Stand 8. Oktober) behandelt. Mehr als die Hälfte davon wird künstlich beatmet. Es sind vor allem Ungeimpfte, die aktuell schwer erkranken.
Die Politik bleibt vorsichtig
"Es ist ganz schwer zu sagen, wo wir uns in dieser Pandemie befinden, von der wir ausgehen können, dass sie weltweit zwei bis vier Jahre dauern wird", sagt Berit Lange vom Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung im DW-Interview. "Was wir wissen ist, dass wir in Deutschland noch nicht genügend Immunität haben in der Bevölkerung, um auch durchaus schwerere Ausbrüche mit Belastung der Krankenhäuser ganz zu vermeiden."
Aktuell liegt die Quote der vollständig Geimpften laut offiziellen Zahlen bei 65 Prozent - bei den besonders gefährdeten über-60-Jährigen sogar bei fast 85 Prozent. Allerdings sind die Zahlen nicht ganz gesichert. Das RKI selbst gibt an, dass die Impfquote auch um fünf Prozentpunkte höher liegen könnte. Offenbar seien viele Impfungen unter anderem von Betriebsärzten nicht gemeldet worden. Eine Überprüfung laufe, wie es hieß.
Nun beginnt die kalte Jahreszeit. Das Leben spielt sich wieder stärker in Innenräumen ab. Damit steigt die potenzielle Infektionsgefahr. Die Politik kennt dieses große "Aber". Minister Spahn sendete neben der Botschaft, die Lage einigermaßen im Griff zu haben, gleich noch eine Warnung hinterher: Für einen sicheren Herbst-Winter werde die Impfquote nicht reichen. Er warne vor Übermut. "Wir dürfen nicht zu schnell gehen, sondern Schritt-für-Schritt. Damit wir nicht wieder zurückgehen müssen."
Einen "Freedom-Day" wie in Großbritannien, an dem alle Maßnahmen beendet werden, zeichnet sich für Deutschland aktuell nicht ab. Epidemiologin Lange hält allerdings generell nicht viel davon: "Die Frage, ob man so etwas ausruft, ist eine politische. Die Frage, ob man das dann durchhalten kann, ist eine epidemiologische Frage." Bei wieder steigender Infektionsdynamik mit entsprechend starker Belastung der Gesundheitssysteme habe die Politik keine andere Wahl, als Schutzmaßnahmen wieder einzuführen.
Im Fokus: Schulkinder und Nicht-Geimpfte
Aktuell fokussiert sich die Corona-Politik auf zwei Gruppen. Wer in Deutschland die Pandemie noch beinahe täglich hautnah erlebt, sind vor allem Schulkinder. Für die Altersgruppe der Unter-12-Jährigen ist eine Impfung noch nicht empfohlen. Das betrifft in Deutschland rund neun Millionen Kinder. Es gibt in dieser Altersgruppe die meisten Infektionen. Bislang aber, so berichten Mediziner, gebe es nur wenige schwere Fälle. Doch, dass auch Kinder wegen Corona ins Krankenhaus müssen, davor warnte unter anderem die Virologin Jana Schroeder im Gespräch mit der DW.
Zum Schutz gelten weiterhin Hygiene-Bestimmungen, Test- und Quarantäne-Anordnungen, die von Bundesland zu Bundesland und Schule zu Schule unterschiedlich sind. Ein gemeinsamer Streitpunkt ist derzeit die Frage nach der Maskenpflicht in Schulen. Das Robert Koch-Institut sagt "Ja", anders als viele Kinder- und Jugendärzte. Manche Bundesländer haben die Maskenpflicht schon abgeschafft, eingeschränkt oder planen dies. Zentrale Vorgaben gibt es nicht, Schulen gehören zum Kompetenzbereich der Bundesländer.
Auch Pascal Haag, Schüler in Nordrhein-Westfalen, treibt das Thema um. Eine Maskenpflicht findet er - ab Klasse 5 - generell richtig. Weil damit das Risiko sich anzustecken, geringer sei, sagt er der DW. Auch die allermeisten Eltern würden das so sehen, berichtet Pascal, der auch Mitglied der Schulkonferenz ist, in der Lehrer, Schüler und Eltern gemeinsam beraten.
Aber außerhalb der Schule, sagt der 16-Jährige, sei die Situation einfach nur "bizarr". "An Abstand und Maske ist im Restaurant oder in der Kneipe nicht zu denken, in der Schule aber Pflicht. Ich denke, es sollte einfach einheitliche Regeln zu Innenräumen geben."
Druck auf Umgeimpfte steigt
Die andere Gruppe im Fokus der Politik sind die Nicht-Geimpften. Bei den Über-60-Jährigen sind das immerhin drei Millionen. Zwar gibt es keine Impfpflicht, aber der Druck steigt, sich impfen zu lassen. In vielen Restaurants, zum Friseur oder zu Musik-Veranstaltungen darf nur, wer entweder getestet, genesen oder geimpft (3G) ist. Gastwirte dürfen auch entscheiden, nur Genesene und Geimpfte (2G) reinzulassen.
Nun entfällt - auch das soll den Druck erhöhen - die Möglichkeit, sich vor dem Restaurant-Besuch schnell kostenlos testen zu lassen. In Berlin macht sich der Schritt bereits an wieder weniger werdenden Pop-Up-Test-Stationen bemerkbar. Ungefähr 25 Euro soll ein Test nun kosten.
Die nächste Verschärfung betrifft die Quarantäne-Regeln. Bislang wurde der Arbeitslohn weiter gezahlt, wenn eine Quarantäne verordnet wurde. Ab November gibt es das für Nicht-Geimpfte dann nicht mehr.
"Häuserwahlkampf fürs Impfen"
Den Fokus momentan auf diese beiden Gruppen - insbesondere auf die für schwere Verläufe höher gefährdeten ungeimpften Erwachsenen - zu richten, mache "epidemiologisch ganz viel Sinn", sagt Lange, die auch Ärztin ist. "Ob das gelingt, muss man sehen." Was allerdings fehle, sei präziseres Wissen darüber, "welche Bevölkerungsgruppen in regionaler Hinsicht aber auch andere Merkmale betreffend noch nicht geimpft sind und mit welchen gezielten Maßnahmen man diese ansprechen könnte. Man müsste jetzt flächendeckend sozusagen Häuserwahlkampf fürs Impfen machen und Menschen sehr gezielt so ansprechen, dass es diesen leicht fällt, Impfangebote anzunehmen."
Auch Pascal hat Verbesserungsvorschläge - für die Schulsituation. An seiner Schule fehlten noch immer Luftfilter für Räume, die nicht gelüftet werden können. Auch seien die Lehrer noch nicht ausreichend für digitale Lösungen wie den Distanzunterricht fortgebildet. "Bei der Digitalisierung darf es nicht nur um Geräte gehen!" Und dann ist Pascal noch ein Appell an die Politik wichtig: "Macht es nicht wie letztes Jahr! Die Freiheit der Schüler in der Freizeit massiv einschränken und sie dennoch zur Schule zu schicken. Dann kommt man sich so vor, als müsse man nur für die Schule funktionieren, sonst sei man als Person unwichtig."