"Wir haben Freunde und wir sind glücklich."
12. Januar 2015"Lula ist ein echter Carioca", sagt Bob Montinard. "Cariocas" heißen die Bewohner von Rio de Janeiro. Und mit Lula meint er nicht Brasiliens Ex-Präsidenten, sondern seinen siebenjährigen Sohn. Bob ist froh, dass sich Lula und dessen kleiner Bruder Bimba in Rio so wohl fühlen. Denn die Stadt am Zuckerhut ist ihre neue Heimat. Und, geht es nach Bob und seiner Frau Mélanie, wird sie es auch bleiben.
Die Montinards sind Haitianier. Nach Rio sind sie gekommen, nachdem das verheerende Erbeben am 12. Januar 2010 ihr Haus in Port-au-Prince zerstört hatte. "Unser Haus hatte drei Stockwerke, bei dem Beben stürzte es zusammen wie ein Kartenhaus", erzählt Mélanie, die als einzige rechtzeitig ins Freie gelangte. Bob und die beiden Söhne blieben unter den Trümmern eingeschlossen. "Bimba lag unter mir, mein Fuß war gebrochen und ich konnte mich nicht bewegen", schaudert es noch immer Bob, der am selben Tag mit seinem damals einjährigen Sohn geborgen wurde. Dass auch der zweijährige Lula überlebte, grenzt an ein Wunder: "Drei Tage lang war er verschüttet - ohne Essen, ohne Wasser", erklärt Bob.
Gelobtes Land Brasilien
220.000 Menschen starben bei dem Erdbeben. 1,5 Millionen Haitianer verloren ihre Wohnung. Viele haben wie die Montinards in den folgenden Monaten und Jahren einen Neuanfang im Ausland gesucht. Brasilien gehörte von Anfang an zu den beliebtesten Zielen. 2010 boomte das Land, galt vielen armen Lateinamerikanern auf der Suche nach Arbeit als gelobtes Land.
In Haiti kam hinzu, dass brasilianische Blauhelme die Friedensmission der Vereinten Nationen kommandierten, die das Land nach der Katastrophe stabilisieren sollte. Allein zwischen 2010 und 2013 registrierten brasilianische Behörden 21.000 haitianische Einwanderer. Die tatsächliche Anzahl dürfte jedoch höher liegen, denn viele Haitianer reisten illegal über Drittländer ein.
Die Montinards gehören nicht dazu. Bob und Mélanie arbeiteten in Haiti für eine brasilianische Nichtregierungsorganisation als Mediatoren in sozialen Projekten und hatten daher Kontakte nach Rio. Aber es sollte noch etwas dauern, bis sie sich für Brasilien entschieden.
Beginn einer kleinen Odyssee
Der politische und zivile Aufbau Haitis dauert bis heute an. Doch in den Tagen nach dem Erdbeben funktionierte dort buchstäblich nichts mehr. Selbst für eine gut situierte Familie wie die Montinards gab es keine Chance auf ärztliche Betreuung. Zwei Tage lang wartete Bob darauf, dass ein Arzt seinen Fuß untersuchte.
Dann gelangte die Familie über die französische Karibikinsel Guadeloupe nach Frankreich, wo ein Teil von Mélanies Familie lebt. Doch trotz mehrerer Operationen kann Bob bis heute keine längeren Strecken laufen: "Es reicht nicht einmal, um meine Kinder auf dem Schulweg zu begleiten."
Als die Montinards im Oktober 2010 zunächst nach Haiti zurückkehrten, fanden sie ihr Heimatland in völligem Chaos vor. Von Wiederaufbau war kaum etwas zu sehen, zudem war die Cholera ausgebrochen. "In den Straßen stank es nach Leichen, jeden Tag gab es Proteste, Armut und Gewalt wurden immer schlimmer", erzählt Bob, "die Kinder konnten nicht in die Schule gehen und wussten nichts mit sich anzufangen."
Suche nach einem Neuanfang
Das Leben, das die Montinards einmal hatten, war für immer verloren. Zu den menschlichen und materiellen Verlusten kam das Trauma: "Ich wurde unter den Trümmern meines Hauses begraben und bin wieder auferstanden", sagt Bob bitter. "Aber ich bin nicht mehr die selbe Person, der Alptraum verfolgt mich bis heute."
Also entschied die Familie, Haiti zu verlassen. Trotz Verwandten in Frankreich und Kanada entschied sie sich für Brasilien. Es sollte wenigstens ein bisschen wie Haiti sein, aber ohne Erdbeben. Weihnachten 2010 verbrachten die Montinards bei Freunden in Rio. Und sie blieben - bis heute.
Endlich angekommen
Vier Jahre später haben sich alle vier gut eingelebt. Die beiden Söhne Lula und Bimba kennen kaum etwas anderes. Sie leben jetzt schon viel länger in Brasilien als sie je in Haiti gelebt haben. Für den 39-jährigen Bob und die sechs Jahre jüngere Mélanie ist es nicht ganz so selbstverständlich.
Sie hatten in Haiti zur oberen Mittelschicht gehört, konnten es sich leisten, jeden Tag essen zu gehen und hatten ein ansehnliches Einfamilienhaus besessen. Einmal ist Mélanie dorthin zurückgekehrt, um ein paar Habseligkeiten aus den Trümmern zu retten. Bob findet, es geht um viel mehr: "Früher haben wir Menschen geholfen. Seit dem Erdbeben sind wir auf Hilfe angewiesen."
Das ist auch Schwierigkeiten mit der brasilianischen Bürokratie geschuldet: Bis heute besitzen sie keinen dauerhaften Aufenthaltstitel. Das macht es den beiden schwer, für finanzielle Sicherheit zu sorgen. Zweimal ist Bob bereits nach Haiti zurückgekehrt, um dort Geld zu verdienen.
Doch langsam fügen sich die Dinge: Mélanie hat eine Stelle als Doktorandin für Anthropologie gefunden, beide verdienen etwas Geld in Nichtregierungsorganisationen und mit sporadischen Übersetzungen. Die beiden Jungen gehen zur Schule und gehen regelmäßig schwimmen, zum Capoeira und zum Fußball. "Ganz einfach ist es immer noch nicht", sagt Bob, "aber es wird immer besser. Wir haben Freunde, und wir sind glücklich."