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Wirecard-Abschlussbericht lässt Schuldfrage offen

22. Juni 2021

Monatelang hat ein Bundestags-Ausschuss im Milliardenbetrugsfall Wirecard ermittelt. Er stieß auf eklatantes Versagen der Aufsichtsbehörden. Die politische Verantwortung dafür will aber niemand übernehmen.

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Berlin | Pressekonferenz Wirecard
Bild: Kay Nietfeld/picture alliance/dpa

Am Ende wollte keiner dem anderen die Deutungshoheit überlassen. Nicht jetzt, drei Monate vor der Bundestagswahl. Vier getrennte Pressekonferenzen setzten die neun Mitglieder des Wirecard-Untersuchungsausschusses zum Abschluss ihrer parlamentarischen Ermittlungsarbeit an. Vier Termine, um die jeweils eigenen politischen Schlussfolgerungen aus dem 4500 Seiten starken Abschlussbericht des Untersuchungsausschusses darzustellen.

Die Regierungsparteien CDU, CSU und SPD tragen den Abschlussbericht zwar mit, haben aber verhindert, dass der Bericht eine Antwort auf die Frage gibt, wer für den wohl größten Betrugsskandal in der deutschen Nachkriegsgeschichte politisch verantwortlich ist. Die Oppositionsparteien FDP, Linke und Grüne haben daher ein Sondervotum verfasst. Ein zweites kommt von der rechtspopulistischen AfD, die den Vorsitz im Ausschuss hatte.

Wer war verantwortlich?

Wirecard hatte im Juni 2020 nach Bekanntwerden milliardenschwerer Luftbuchungen Insolvenz anmelden müssen. 24 Milliarden Euro Börsenwert lösten sich über Nacht in Nichts auf, dazu kommen drei Milliarden Euro Schulden. Zahlreiche Kleinanleger verloren ihre Ersparnisse.

Auf Drängen der Oppositionsparteien FDP, Grüne und Linkspartei sollte der Ausschuss ermitteln, wie Wirecard mit seinen Betrügereien jahrelang durchkommen konnte, obwohl es seit 2015 reichlich Warnungen gab, die auch die Bundesregierung und die ihr unterstellten Aufsichtsbehörden hätten stutzig machen müssen. "Ein Untersuchungsausschuss ist der stärkste Ausdruck des Kontrollrechts des Parlaments über die Bundesregierung", erklärt der CSU-Abgeordnete Hans Michelbach.

Fleißig und konstruktiv

Die Ausschussarbeit sei eine Art "öffentliche Tatortbegehung" gewesen, formuliert der linke Abgeordnete Fabio de Masi. Tausende Blätter Akten und hunderte Gigabyte Daten wurden gesichtet. In 52 Ausschusssitzungen wurden, oft bis spät in die Nacht, mehr als 100 Zeugen vernommen. Darunter die Bundeskanzlerin, drei Minister, eine Reihe Staatssekretäre, Behördenchefs, aber auch der Ex-Vorstand von Wirecard, Markus Braun, der in Untersuchungshaft sitzt. Die Staatsanwaltschaft München ermittelt wegen Bilanzfälschung, Betrug, Marktmanipulation und Geldwäsche.

Deutschland Berlin | Untersuchungsausschuss Wirecard Markus Braun
Markus Braun im UntersuchungsausschussBild: Fabrizio Bensch/REUTERS

"Konstruktiv und sachorientiert" habe der Ausschuss zusammengearbeitet, lobt der CDU-Abgeordnete Matthias Hauer. Hans Michelbach von der CSU, der im Herbst nicht wieder für den Bundestag kandidieren wird, schwärmt: "Dieser Untersuchungsausschuss hat an Fleiß und Zusammenarbeit quer durch alle Fraktionen alles übertroffen, was ich in 27 Jahren kennengelernt habe."

Schaden für den Kanzlerkandidaten

Doch am Ende war es mit der Einigkeit vorbei. Was vor allem daran liegt, dass die SPD ihren Kanzlerkandidaten Olaf Scholz, der seit 2018 Bundesfinanzminister ist, nicht beschädigt sehen will. Scholz sei im Ausschuss vollständig entlastet worden, betont erwartungsgemäß der SPD-Abgeordnete Jens Zimmermann.

Aus Sicht der SPD sind vor allem die Wirtschaftsprüfer von EY (ehemals Ernst & Young), die über Jahre die Bilanzen von Wirecard geprüft und nicht beanstandet haben, verantwortlich für den Betrugsskandal. Die Bilanzprüfung, die Einblick in alle Zahlen und Bücher bei Wirecard gehabt habe, habe massiv versagt, so Zimmermann.

Prüfen, ob Geld da ist oder nicht

Das Versagen der Prüfer sehen die übrigen Ausschussmitglieder auch. "Da sind viele rote Ampeln überfahren worden", urteilt der CDU-Politiker Fritz Güntzler, der selbst seit 30 Jahren Wirtschaftsprüfer ist. Es habe viele Auffälligkeiten gegeben, die man hätte erkennen müssen. "Bei der Abschlussprüfung ist es eigentlich der leichteste Posten, zu prüfen, ob Geld da ist oder nicht." Er selbst habe "nicht erahnt, welche Fehler Wirtschaftsprüfer machen können".

Deutschland | Untersuchungsausschuss zu Wirecard in Berlin | Olaf Scholz
Finanzminister Olaf Scholz im Untersuchungsausschuss Bild: Michele Tantussi/AP Photo/picture alliance

Doch neben den Prüfern sehen CDU und CSU vor allem Olaf Scholz in der Verantwortung. "Der Wirecard-Skandal ist ein Kriminalfall, es ist ein Zeugnis des Versagens von Abschlussprüfern und er offenbart ein multiples Aufsichtsversagen unter den Augen des Bundesfinanzministeriums", urteilt der CDU-Abgeordnete Matthias Hauer.

Olaf Scholz mit Erinnerungslücken

Für die Union steht fest: "Die politische Verantwortung für den Wirecard-Skandal tragen Bundesfinanzminister Olaf Scholz und die Führung des Finanzministeriums." Die Finanzaufsicht Bafin und das für sie zuständige Finanzministerium hätten sich jahrelang in einem "Aufsichtstiefschlaf" befunden.

Berlin | Pressekonferenz Wirecard
Von rechts: Matthias Hauer (CDU), Hans Michelbach (CSU) und Fritz Güntzler (CDU) bei ihrer PressekonferenzBild: Metodi Popow/Imago Images

Im Ausschuss habe man ein Bundesfinanzministerium erlebt, "das weg sieht, das falsch handelt und das Aufklärung erschwert", so Hauer. Auffallend seien auch verspätete Aktenlieferungen und fadenscheinige Ausreden gewesen. "Ein teilweise respektloser Umgang auch mit dem Parlament", urteilt der CDU-Politiker. Olaf Scholz wiederum habe sich bei seiner Vernehmung im Ausschuss als "schweigender Minister mit unglaubwürdigen Erinnerungslücken" präsentiert.

Die AfD fordert den Rücktritt

Der Minister hätte zumindest den für die Finanzaufsichtsbehörde Bafin zuständigen Staatssekretär im Ministerium, Jörg Kukies, "freistellen sollen", so Hauer. Das reicht dem AfD-Abgeordnete Kay Gottschalk, der im Untersuchungsausschuss den Vorsitz hatte, nicht. "Herr Scholz muss zurücktreten", fordert Gottschalk, der dem Bundesfinanzminister vorwirft, an seinem Sessel zu kleben. 

Auch die FDP, die Grünen und die Linkspartei, die zusammen vor die Presse traten, sehen den Bundesfinanzminister in der Verantwortung, weil er für die Finanzaufsicht Bafin und die Anti-Geldschwäsche-Einheit FIU zuständig ist. Beide Stellen hätten sich nicht rechtzeitig um Aufklärung bemüht. Schon 2019 habe es eine "idiotensichere Ausarbeitung der Commerzbank" gegeben, die den Verdacht von Geldwäsche nahelegte und "sehr hilfreich gewesen wäre, die Milliardenlüge bereits 2019 zu enttarnen", so der FDP-Abgeordnete Florian Toncar. Die FIU habe die Brisanz der Verdachtsmeldungen einfach nicht erkannt, ergänzt sein CSU-Kollege Hans Michelbach.

Verteidigung gegen böse Mächte

Doch anstatt den Vorwürfen nachzugehen, habe die Bafin ein Leerverkaufsverbot für Wirecard-Aktien erlassen, also verboten, auf Kursverluste zu wetten. "Die Bafin griff ein in der Mentalität, dass die guten deutschen Unternehmen gegen die bösen ausländischen Mächte verteidigt werden müssten", sagt die grüne Abgeordnete Lisa Paus. Zu viele seien "besoffen gewesen von den Erfolgsgeschichten, die im Internet erzählt werden", ergänzt ihr FDP-Kollege Florian Toncar. Er ist sich sicher, dass der milliardenschwere Schaden hätte bedeutend gemindert werden können, wenn die Bafin Wirecard nicht "aktiv abgeschirmt" hätte.

"Die gesamte Bundesregierung hat sich im Fall Wirecard nicht mit Ruhm bekleckert", resümiert der CSU-Politiker Michelbach. Jedem verantwortlichen Amtsträger müsse "eine Gewissenserforschung aufgegeben werden, was man dem kleinen Anleger sagt, der sein Geld verloren hat". Michelbach sieht darin "eine Verantwortung, die von weiten Teilen der Amtsträger nicht erkannt oder immer noch weitgehend klein gehalten" werde. "Es ist für mich ein Niedergang der Politik, dass man hier noch nicht einmal Bedauern einräumt."

Strafprozess und Zivilklagen erwartet

Am Dienstagmorgen wurde der Abschlussbericht des Untersuchungsausschusses an Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble übergeben. Am Freitag will der Bundestag abschließend darüber debattieren. Auch wenn die parlamentarische Aufklärung des Betrugsskandals damit beendet ist, wird die Aufarbeitung weitergehen. Der Strafprozess gegen Ex-Wirecard-Vorstand Markus Braun steht noch aus, ermittelt wird auch gegen seinen flüchtigen Vorstandskollegen Jan Marsalek.

Außerdem sind Zivilprozesse zu erwarten, in denen Anleger Schadensersatz vom Wirtschaftsprüfer EY fordern. Der britische Prozessfinanzierer Litfin hat bereits die Ansprüche von 20.000 Wirecard-Geschädigten gesammelt und bereitet Klagen vor.