Wo Corona-Todeszahlen verschleiert werden
9. August 2021Seit Beginn der Pandemie Anfang 2020 wurden weltweit 4,27 Millionen Todesfälle durch COVID-19 offiziell gemeldet. Doch diese Zahl, so wird weithin vermutet, ist viel zu niedrig.
Um hier für mehr Transparenz zu sorgen, haben ein israelischer und ein deutscher Wissenschaftler die weltweit größte Datenbank über länderspezifische Sterbedaten erstellt. Ab jetzt können gemeldete COVID-Todesfälle wöchentlich, monatlich oder vierteljährlich mit den allgemeinen Sterbedaten aus 103 Ländern verglichen werden.
"Die Übersterblichkeit, also der Anstieg der Gesamtsterblichkeit im Vergleich zur erwarteten Sterblichkeit, wird weithin als objektiverer Indikator für die COVID-19-Todesrate angesehen", schreiben die Autoren der Studie, Ariel Karlinsky von der Hebräischen Universität Jerusalem und Dmitry Kobak von der Universität Tübingen in Süddeutschland.
Ihr in diesem Monat veröffentlichter World Mortality Dataset geht davon aus, dass es seit Beginn der COVID-19-Pandemie tatsächlich mindestens eine Million zusätzliche Todesfälle gegeben hat - und zwar ohne die Daten aus mehr als 100 weiteren Ländern, aus denen diese Zahlen nicht zur Verfügung standen.
Auch die Weltgesundheitsorganisation (WHO) sieht in der offiziellen Zahl der Todesfälle eine "erhebliche Untererfassung", was bedeutet, dass weniger als die tatsächlichen direkt oder indirekt auf COVID-19 zurückzuführenden Todesfälle registriert wurden.
Die Gründe für solche Untererfassungen sind vielfältig und hängen beispielsweise von der politischen Sicherheitslage eines Landes oder schlicht vom Willen einer Regierung ab, solche Daten überhaupt zu veröffentlichen. "In vielen Ländern gibt es noch keine funktionierenden zivilen Registrierungs- und Vitalstatistiksysteme, die genaue, vollständige und zeitnahe Daten über Geburten, Todesfälle und Todesursachen liefern können", schreibt die WHO in einem im Mai veröffentlichten Bericht.
Autoritäre Regime veröffentlichen tendenziell falsche Zahlen
Politologen und Wissenschaftler gehen seit langem davon aus, dass die Kluft zwischen offiziellen COVID-Todesraten und der tatsächlichen Opferzahl in Ländern mit autoritären Regimen größer ist als in den Statistiken demokratischer Länder.
Aus dem neuen globalen Datensatz ergeben sich entsprechende Quoten, aus denen sich - multipliziert mit den offiziellen Zahlen - die echte Zahl der Todesopfer schätzen lässt. Wenn in Österreich, Belgien, Deutschland und Frankreich die Quote der Untererfassung bei weniger als 1 liegt, haben diese Länder also recht genaue Zahlen gemeldet.
Im Gegensatz dazu wurden die größten Unterschiede zwischen offiziellen COVID-Toten und tatsächlichen Todeszahlen in nicht-demokratischen Ländern festgestellt. Wie beispielsweise in Ägypten, wo diese Quote 13 betrug. Hier wurden bis November 2020 etwa 6600 Todesfälle offiziell gemeldet, während die tatsächliche Sterberate auf 87.000 geschätzt wird.
"In autoritären Regimen ist Transparenz im Allgemeinen nicht so wichtig wie in Demokratien, da die Rechenschaftspflicht fehlt", sagte Maria Josua, wissenschaftliche Mitarbeiterin und Sprecherin des Forschungsteams am Hamburger Leibnitz-Institut für Globale und Regionale Studien, im Gespräch mit der DW. "Man kann davon ausgehen, dass viele Statistiken autoritärer Regime geschönt sind, unabhängig davon, ob es sich um Arbeitslosenquoten, Todeszahlen oder Übersterblichkeit handelt. Ägypten ist ein besonders krasses Beispiel mit einer extrem hohen Übersterblichkeitsrate und auch einer extremen Vertuschung."
Noch krasser ist die Lage sogar in Tadschikistan (mit einer Quote von 100), Nicaragua (51), Usbekistan (31) und Belarus (14).
Ägyptens Untererfassung "seit langem vermutet"
"Im Nahen Osten konnten wir mit Daten aus Ägypten, dem Libanon, Israel, Oman und Katar arbeiten, und Ägypten hat ein ziemlich robustes System zur Erfassung der Bevölkerungsdaten", sagte Karlinsky im Video-Chat mit der DW. Der Wissenschaftler geht davon aus, dass Ägyptens hohe Untererfassungsquote von 13 als bewusste Fehlkalkulation sowie als offensichtliche Machtprojektion der autoritären Führung gesehen werden muss.
"Die Untererfassung der COVID-Fälle und -Todesfälle in Ägypten wird von vielen Beobachtern, darunter auch von mir, seit langem vermutet", sagte Timothy Kaldas, ein Forscher des Tahrir Institute for Middle East Policy, im Gespräch mit der DW.
"Die überzähligen Todesfälle zwischen Mai und Juli 2020 deuten darauf hin, dass die Untererfassung wahrscheinlich sogar ganz massiv ist. Es scheint, dass die ägyptische Regierung nicht an einer umfassenden Zählung der Fälle interessiert ist, da die offiziellen Zahlen nur die von der Regierung durchgeführten PCR-Tests widerspiegeln, die größtenteils für schwere Fälle in staatlichen Krankenhäusern reserviert sind. Private PCR-Tests und andere Diagnosemethoden werden bei der offiziellen Zählung nicht berücksichtigt", so Kaldas.
Auch wirtschaftliche Faktoren spielen eine entscheidende Rolle: Der Internationale Währungsfonds hatte die Wachstumsprognose für Ägypten für 2021 von 2% auf 2,8% angehoben, was zum Teil auf "offiziellen Zahlen beruhte, die selbst die Regierung als ungenau einräumt", wie Kaldas betonte.
Die wirtschaftlichen Auswirkungen weiterer COVID-Todesfälle auf das Rückgrat des Landes - den Tourismus - dürften nicht unterschätzt werden, betont auch Josua. "Noch eine verpasste Tourismussaison kann man sich einfach nicht leisten", sagte sie.
Die Krux mit den aussagekräftigen Zahlen
Bevor Karlinsky und Kobak Ende 2020 mit ihrer Erhebung begannen, gab es keine umfassende internationale Datenbank für eine pandemiebedingte Übersterblichkeitsrate. Einige wenige Datensätze haben bislang nur die Zahlen aus einer Handvoll einkommensstarker Länder in Europa verglichen.
Natürlich müssen beim Vergleich der Zahlen mit den Vorjahren zahlreiche Aspekte berücksichtigt werden. So sank im vergangenen Jahr aufgrund von Lockdowns beispielsweise die weltweite Zahl der tödlichen Autounfälle auf einen historischen Tiefstand.
Auch Todesfälle durch die Grippe oder andere Atemwegserkrankungen gingen zurück, was auf die sozialen Abstandsregeln und die Tatsache zurückzuführen ist, dass viel mehr Menschen von zu Hause aus arbeiteten.
Die Forscher weisen auch darauf hin, dass 2020 ein Schaltjahr war, was einen direkten Vergleich mit einem anderen Jahr naturgemäß leicht verzerrt. Außerdem waren die Erfassungszeiträume von Land zu Land unterschiedlich, je nachdem, wann die Pandemie in den einzelnen Gebieten begann.
Fest steht jedoch, dass weitaus mehr Menschen an COVID-19 gestorben sind als die offizielle weltweite Zählung der WHO angibt.
Angst vor Manipulation als Folge
"Ich spüre Hoffnung und Angst zugleich", sagte Karlinsky der DW. Er hoffe, Länder würden sich die Ergebnisse zu Herzen nehmen und ihre COVID-Todeszahlen neu überprüfen. Peru habe dies bereits getan und die Zahl der Todesopfer aktualisiert, die sich von 69.000 auf 180.000 mehr als verdoppelt hat.
"Ich befürchte aber, dass autoritäre Länder die bereits jetzt das Ausmaß der Pandemie herunterspielen, auch diese Art von Daten manipulieren könnten", sagte er.
Konkret würde genau das in der Türkei gerade passieren: Dort sollten die monatlichen Daten zur Gesamtmortalität für 2020 bis Ende Juni veröffentlicht werden. Doch Ankara habe die Veröffentlichung wegen unerklärlicher Schwierigkeiten "auf unbestimmte Zeit" verschoben, so Karlinsky. "Ich stehe mit Forschern in der Türkei in Kontakt. Es gibt mehrere Übersterblichkeitsschätzungen aus Istanbul und anderen Großstädten. Und die Unterschiede sind wahrscheinlich sehr, sehr groß."