Zu wenige Medikamente für Arme
24. Oktober 2012Eine Milliarde Menschen weltweit wird nicht ausreichend gesundheitlich versorgt. Cholera oder Tuberkulose, Krankheiten die im Westen längst ihren Schrecken verloren haben, bedeuten in Entwicklungsländern häufig den Tod. Laut Weltgesundheitsorganisation sterben jährlich sechs Millionen Kinder unter fünf Jahren wegen mangelnder ärztlicher Versorgung. Ein Grund: die hohen Preise für moderne Arzneimittel und die Patentpolitik der Pharmaindustrie. Gerade für neue Medikamente seien die Preise "völlig überzogen", kritisiert Christian Wagner-Ahlfs von der BUKO Pharma-Kampagne: "Ein großes Problem ist, dass die Unternehmen ihre wahren Forschungskosten nicht offenlegen, so dass sich die Preise sehr schlecht kontrollieren lassen." Die "Bundeskoordination Internationalismus" (BUKO) ist ein unabhängiger Dachverband, dem über 120 entwicklungspolitische Organisationen angehören. Die BUKO-Pharmakampagne hat sich nach eigener Aussage zum Ziel gesetzt, "die Aktivitäten der deutschen Pharmaindustrie in der Dritten Welt zu untersuchen".
Preiswertere Medikamente allein würden die Gesundheitsversorgung in Entwicklungsländern nicht verbessern, betont hingegen Norbert Gerbsch im DW-Interview. Der stellvertretende Geschäftsführer des Bundesverbandes der Pharmazeutischen Industrie sieht vielmehr die armen Ländern selbst in der Pflicht: "Insgesamt ist das eine Aufgabe, die sich nur durch Entwicklung lösen lässt. In diesen Ländern mangelt es ja nicht nur an preiswerten Arzneimitteln, in diesen Ländern mangelt es an den gesundheitlichen Infrastrukturen, von Ärzten über Logistik, Versorgung, Apotheken, Diagnose. Das ist in der Tat eine Aufgabe, die sich insgesamt an die Gesellschaft adressiert, solche Defizite kann man nicht ad hoc beheben." Auch Hunger und Unterernährung begünstigen Krankheiten wie Durchfall, Lungenentzündung oder Malaria.
Langwierig und teuer
Die Entwicklung eines neuen Medikaments dauert durchschnittlich zehn bis zwölf Jahre. Über die genauen Kosten gibt es keine konkreten Angaben. Die Pharmabranche spricht von 600 bis 800 Millionen Dollar, die investiert werden müssen, um einen neuen Wirkstoff zu entwickeln.
Die US-Verbraucherorganisation Public Citizen hingegen veranschlagt die realen Kosten der Pharmaindustrie für die Entwicklung eines neuen Medikamentes auf maximal 110 Millionen Dollar. Die Differenz erkläre sich dadurch, dass die Unternehmen die sogenannten "Opportunitätskosten" mit einrechnen: Dabei handelt es sich um entgangene Gewinne, die möglich gewesen wären, wenn sie das Geld in andere Projekte investiert hätten.
Einen großen Teil der Kosten trägt dabei die Allgemeinheit, erläutert Christian Wagner-Ahlfs im DW-Interview: "Über die Hälfte der weltweiten Forschungsausgaben im Pharmabereich sind öffentliche Gelder, also Steuergelder, die an Universitäten ausgegeben werden oder auch Steuersubventionen, die die Unternehmen für ihre Forschung erhalten."
Mit dem Ziel, die Entwicklung von neuen Medikamenten zu beschleunigen und auch die Forschungskosten zu senken, haben zehn große Pharmakonzerne jetzt ein Netzwerk gegründet. Die gemeinnützige Organisation TransCelerate BioPharma will sich dafür einsetzen, dass die Firmen in frühen Forschungsphasen und in Bereichen, in denen sie noch nicht im Wettbewerb stehen, stärker zusammenarbeiten und einheitliche Standards schaffen. Das Familienunternehmen Boehringer Ingelheim ist als einziger deutscher Konzern an dem Netzwerk beteiligt.
Forschung für kaufkräftige Märkte?
Die Industrie interessiere sich nur für "Krankheiten der Reichen", kritisiert Wagner-Ahlfs von der BUKO-Pharmakampagne: "Ganz typisch für die ärmeren Länder sind die sogenannten vernachlässigten Krankheiten. Das sind tropische Infektionskrankheiten und armutsbedingte Krankheiten wie Tuberkulose - Krankheiten, die bei uns praktisch nicht auftreten und aus diesem Grund auch für die kommerziell ausgerichtete Pharmaindustrie völlig uninteressant sind. Über viele Jahrzehnte wurde in diesem Bereich praktisch gar nicht geforscht."
Entwicklungsländer werden für die Pharmaindustrie auch in Zukunft wohl eher unattraktiv bleiben. Vielmehr entdecken die Unternehmen die Schwellenländer als potentielle Absatzmärkte. Norbert Gerbsch vom Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie begründet das damit, dass Investitionen in neue Medikamente refinanziert werden müssen: "Deswegen investieren pharmazeutische Unternehmen ja auch gezielt in spezielle Forschungseinrichtungen und –programme. Diese Märkte entwickeln sich ja noch, die Wirtschaftskraft nimmt zu. Das sind Märkte der Zukunft, die man sich auf diese Art und Weise auch erschließen kann." Der wachsende Wohlstand hat in Schwellenländern wie Indien und Brasilien zum Beispiel zu einem Anstieg der sogenannten Zivilisationskrankheiten geführt: Diabetes, Bluthochdruck, Herz-, Leber- und Lungenkrankheiten.