Bildung für Fortschritt in Afghanistan
9. Oktober 2013Ein verwaistes Gebäude, herausgerissene Fenster und Leitungen. Die Kacheln sind heruntergeklopft, staubige Regale anstatt mit Büchern gefüllter Zimmer, Einschusslöcher anstelle von Tafeln. Bilder, die Dorothea Rüland, Generalsekretärin des Deutsch Akademischen Austauschdienstes (DAAD), bis heute im Gedächtnis geblieben sind. Als sie 2002 das erste Mal die Kabuler Universität in Afghanistan besuchte, war sie erschüttert: "Die Universität stand zwar noch, aber sie war total entkernt". Es gab keine Einrichtungen für die Studenten. Im Rest des Landes sah es nicht besser aus. Etwa sechs Universitäten gab es, sie waren alle gleichermaßen verwahrlost. Der DAAD wurde damals beauftragt, zusammen mit einer deutsch-afghanischen Hochschuldelegation zu helfen, das Hochschulwesen in Afghanistan wieder aufzubauen.
Noch im gleichen Jahr besuchte die Delegation das lokale Hochschulpersonal, um gemeinsam eine Wiederaufbaustrategie zu entwickeln. Die Begegnung mit den vom Krieg gezeichneten Menschen berührte Dorothea Rüland. "In jeder Familie waren Menschen umgekommen", berichtet sie. Aber sie sah in den Augen der Menschen auch die "unglaubliche Hoffnung, dass Bildung der Schlüssel zu einer Entwicklung des Landes und auch des persönlichen Lebens ist". Kein Wunder, Afghanistan ist eines der jüngsten Länder weltweit. Nach Angaben der Vereinten Nationen sind über 70 Prozent der afghanischen Bevölkerung unter 25 Jahre alt. Eine gebildete, junge Generation ist für viele der Weg zum Fortschritt.
Positive Hochschulentwicklung
Die internationale Gemeinschaft hat im Zuge des afghanischen Wiederaufbaus vor allem in das Bildungswesen des Landes investiert. Als Rüland zehn Jahre später wieder nach Kabul fährt, hat sich Vieles verändert: Heute sind laut dem Ministerium für Hochschulbildung rund 250.000 Frauen und Männer an 31 staatlichen und mehr als 70 privaten Hochschulen eingeschrieben. Jährlich machen Tausende Studenten dort ihren Abschluss. "Ich war wieder in der gleichen Universität: Inzwischen hat sie Fenster, Leitungen und Kacheln", sagt Rüland lächelnd. "Es ist heute eine funktionsfähige Universität mit regulären Veranstaltungen. Es gibt Büchereien und Labore, alles was man braucht. Und dort studieren viele Studentinnen, was ich sehr schön finde."
"Multiplikator-Effekt" in der Bildung
Der DAAD fördert seit 2002 im Jahr durchschnittlich etwa 700 Afghanen im Rahmen von Stipendien, Kurzzeitaufenthalten in Deutschland und Fortbildungen in Afghanistan selbst. Vor allem die Stipendien für Masterabschlüsse in Deutschland sind für viele junge Afghanen reizvoll. Erst vor ein paar Tagen feierten 28 afghanische Studenten in Bochum und 24 weitere in Berlin ihren Master. "Sie kehren nach Afghanistan zurück, um dort an den Universitäten zu lehren", so Alexander Kupfer vom Afghanistan-Referat im DAAD. Er erwartet, dass allein vom Unterricht der 24 Berliner Absolventen in den nächsten drei Jahren mehr als 2500 afghanische Studierende profitieren werden - ein sogenannter Multiplikator-Effekt, der sich auch in Zukunft fortsetzen soll. "Wir gehen zur Zeit davon aus, dass wir auch noch in den kommenden zehn Jahren, der sogenannten Transformationsdekade, diese Projekte weiter fortführen und Afghanistan beim Wiederaufbau unterstützen können."
Trotz der positiven Entwicklungen mangelt es jedoch noch an Vielem in Afghanistans Bildungssystem. Viele Studenten kritisieren die schlechte Ausbildung der meisten Dozenten und den Mangel an Büchern und Lernmaterialien. Die Forschung stecke noch in den Kinderschuhen. Ein weiterer Wermutstropfen ist der Arbeitsmarkt: Die vielen Tausend Absolventen bleiben aufgrund fehlender beruflicher Perspektive auf ihren Diplomen sitzen. Die Arbeitslosigkeit in Afghanistan liegt zurzeit bei 35 Prozent.
Sorge um die Zukunft
Die Absolventen Zarifa Jalali und Jamshed Haidery kehren nun, mit einem Masterabschluss in Wirtschaftswissenschaften in der Tasche, als Dozenten an die Universität Kabul zurück. Zarifa - eine der zwei Frauen aus der Gruppe - ist froh, dass ihre Familie die Weiterbildung unterstützt hat. "In einer Gesellschaft wie Afghanistan ist es ist sehr wichtig, dass man die Rückendeckung der Familie hat", sagt sie. Aber es gebe auch Nachbarn und Menschen aus der Umgebung, die anders denken. "Für die ist es unerklärlich, dass meine Familie mir erlaubt hat, ins Ausland zu gehen", erzählt die 27-Jährige.
Jamshed blickt mit gemischten Gefühlen auf die Rückkehr nach Afghanistan. "Ich bin besorgt um das Wohl meiner Familie und Kommilitonen. Während unseres Studienaufenthalts in Deutschland gab es einige Taliban-Anschläge zu Hause in Afghanistan. Wir haben Kollegen und Familienmitglieder verloren, weil diese mit der Regierung zusammengearbeitet oder im Westen studiert haben."
Die Tatsache, dass sie als Frau im Ausland studieren konnte, sei ein Beispiel dafür, dass die afghanische Gesellschaft auf dem Weg sei, emanzipierter zu werden, meint Zarifa. Doch sie befürchtet, dass alle Errungenschaften zunichte gemacht werden, falls die radikal-islamischen Kräfte nach dem Abzug der NATO-Truppen 2014 wieder an die Macht gelangen. "Tausende Frauen wie ich, die studiert haben, müssen dann wieder zu Hause bleiben. Ihr Potenzial wird ungenutzt verloren gehen."
Zarifa und Jamshed glauben, dass die Präsidentschaftswahlen im April nächstes Jahr dafür entscheidend sind, solch einen Rückschritt zu verhindern. Sie selber wollen nun in Afghanistan ihr Bestes tun, um ihr neu gewonnenes Wissen an die nachkommenden Generationen weiterzugeben.