Corona-Krise: Virologen werden zur Zielscheibe
12. Dezember 2020Seit dem Ausbruch der Corona-Pandemie im Frühjahr 2020 kennen Millionen Deutsche den Namen von Christian Drosten, dem Chefvirologen der Berliner Charité und zeitweiligem Berater der Bundesregierung. Auch andere Professorennamen haben Einzug ins kollektive Gedächtnis gehalten: Hendrik Streeck, Alexander Kekulé, Sandra Ciesek und Marylyn Addo, um nur einige von ihnen zu nennen. Noch vor einem Jahr waren sie allesamt nur einem Fachpublikum ein Begriff, heute zählen sie zu den bekanntesten Persönlichkeiten in Deutschland.
Doch die Bekanntheit hat auch Schattenseiten. Immer wieder werden die Wissenschaftler im Netz angefeindet. Ein Beispiel: bei Twitter trendete der Hashtag #SterbenmitStreeck. Der Direktor des Instituts für Virologie am Universitätsklinikum Bonn, Hendrik Streeck, hatte zuvor in der Talk-Sendung "Maischberger" gesagt, dass er es müßig finde, über Todeszahlen im Zusammenhang mit dem Coronavirus zu sprechen. Das empfanden viele Twitter-Nutzer als zynisch. Streeck hingegen zeigte sich angesichts des Hashtags schockiert.
Unter dem Tweet werfen ihm Kritiker vor, dass der Wissenschaftler damit "bewusst überzeichnet".
Im Mai 2020 hatte Streeck für eine heftige Kontroverse mit seiner Heinsberg-Corona-Studie gesorgt, die von einer PR-Agentur flankiert wurde.
Jeder, der sich in der Öffentlichkeit äußere, solle auf Kritik vorbereitet sein, sagt die Psychologin und Buchautorin Pia Lamberty der DW. Allerdings findet auch sie den Streeck-Hashtag "geschmacklos".
Corona machte Drosten zum Star
Es ist aber besonders häufig der Virologe Christian Drosten, der ins Visier gerät. Als einer der führenden deutschen Coronavirus-Experten erreichte er unter anderem mit einem Corona-Podcast, den er gemeinsam mit dem Norddeutschen Rundfunk (NDR) produziert, nationale Bekanntheit.
Um Drostens Person ist fast schon ein Kult entstanden. Pia Lamberty von der Johannes-Gutenberg-Universität in Mainz spricht von einer "Überhöhung" und einem "Superhero"-Image. Ein Beispiel dafür: Im Erzgebirge produziert man Drosten-Spielzeugfiguren als Räuchermännchen. Diese sind laut Herstellerangaben ein Verkaufsschlager und längst vergriffen.
Drosten ist auch deshalb so prominent geworden, weil er zeitweise die Bundeskanzlerin in der Pandemie beriet. In der Rolle als Politikberater ziehen er und andere Virologen besonders viel Kritik und Hass auf sich. So erregte bundesweit die "Bild"-Zeitung Aufsehen, als das auflagenstärkste Boulevard-Blatt Deutschlands einen Artikel titelte: "Fragwürdige Methoden: Drosten-Studie über ansteckende Kinder grob falsch".
Die Zeitung unterstellte dem Virologen eine versteckte Agenda und unsaubere wissenschaftliche Methoden. Drosten wiederum veröffentlichte auf Twitter die "Bild"-Anfrage, die ihm nur eine Stunde Zeit gelassen habe, auf Fragen zu antworten. Später erteilte der Deutsche Presserat der "Bild"-Zeitung eine Rüge wegen "mehrerer schwerer Verstöße gegen die journalistische Sorgfaltspflicht".
Ende August hielten Maskenverweigerer auf einer Demo Plakate unter anderem mit Drosten und dem SPD-Bundestagsabgeordneten Karl Lauterbach in Gefängniskleidung hoch. Virologen seien zum Feindbild der Verschwörungstheoretiker und der sogenannten "Querdenker"-Szene geworden, so Pia Lamberty. Aufgrund der gesteigerten Bedeutung der Virologen empfinde man sie als mächtig, als Teil von "denen da oben". Angriffe auf die freie Wissenschaft seien besonders besorgniserregend, denn diese seien ein Grundpfeiler einer Demokratie.
Diffamierung und Morddrohungen
Der Hass im Internet sei sichtbar angestiegen, sagt im DW-Interview auch Katja Schrickel von der Gruppe #ichbinhier, der größten deutschen Initiative, die sich für bessere Kommunikation im Internet stark macht. Die Hemmschwelle für Hassrede in den sozialen Medien sinke, weil digitale "Prügeleien" zu lange von der Politik, aber auch von den Medien toleriert worden seien, findet Schrickel. Sie bemängelt, dass die Auftritte mancher Medienhäuser in den sozialen Medien zu wenig oder gar nicht moderiert würden. Das schaffe Platz für Hassrede, sagt Schrickel.
Es gebe bisher keine empirischen Erkenntnisse über das Ausmaß der Hassrede und Cybermobbing gegenüber den Wissenschaftlern, stellt Pia Lamberty fest. Dennoch sei das Problem offensichtlich: "Man braucht nur einen Tweet anzuschauen, den Christian Drosten postet, und sieht schon, wie er attackiert wird."
Drosten, aber auch der Epidemiologe Karl Lauterbach, der als Experte Corona-Themen immer wieder kommentiert, haben nach eigenen Aussagen Morddrohungen erhalten. Anfang April erwog Drosten, sich aus der Öffentlichkeit zurückzuziehen. In einem Deutschlandfunk-Interview sagte er, er gehe "so aus dem Haus, dass man mich nicht unbedingt auf den ersten Blick draußen erkennt". Er sei auch in der Öffentlichkeit angefeindet worden: "Wenn man das erlebt hat, dann fühlt man sich zunächst verunsichert."
Dabei genießen deutsche Virologen international einen guten Ruf. Drosten beispielsweise gilt als jemand, der 2003 half, das SARS-Virus zu entschlüsseln und der mit seinen Kollegen von der Charité als erster einen effektiven Corona-Test entwickelte.
Schutz für Virologen in der Corona-Krise?
"Eigentlich finde ich es toll, dass die Virologen an die Öffentlichkeit gegangen sind und versucht haben, die Gesellschaft mitzunehmen", sagt Katja Schrickel. Auch Pia Lamberty findet, dass man den Virologen "extrem dankbar" für die Aufklärung in der Pandemie sein solle. Doch der Weg in die Öffentlichkeit habe einen hohen Preis. Lamberty berichtet über bekannte junge Wissenschaftler, die sich aus Angst vor Konsequenzen nicht öffentlich äußern: "Es ist besorgniserregend. Die Wissenschaft hat ja auch die Aufgabe, in die Öffentlichkeit zu kommunizieren. Und das wird eingeschränkt, wenn man sich Gedanken über die eigene Sicherheit machen muss."
Auch Katja Schrickel sagt, sie sei "zum Teil richtig schockiert" darüber, wie viel Hass den Wissenschaftlern entgegenschlage. An die Diffamierung von Politikern habe man sich inzwischen schon gewöhnt, aber nicht an den Umgang mit Wissenschaftlern. "Man fragt sich, wie muss man drauf sein, um Wissenschaftler so anzuschießen und sogar zu bedrohen, die einfach ihren Job machen", sagt Schrickel.
Äußerst bedenklich finde sie dabei, dass die Wut im Internet oft "mit dem Fach" nichts mehr zu tun habe, sondern nur auf "persönliche Diffamierung" abziele. Allerdings beobachte man an der Initiative #ichbinhier, dass das Phänomen Hassrede "kein singuläres Problem" sei und nicht nur Wissenschaftler betreffe: "Je nach Reizthema kann es jeden treffen".