Ein Tag beim Moers Festival
1. Juni 2020Betritt man die unscheinbare Mehrzweckhalle in der Ruhrgebietsstadt Moers, sieht man zuerst die Corona-bedingten Vorkehrungen, die man schon kennt: Auf dem Fußboden der ENNI Eventhalle sind separate Ein- und Ausgänge und Mindestabstände eingezeichnet. Händedesinfektions-Stationen stehen bereit, es herrscht Maskenpflicht. Die Essensausgabe gegenüber dem Pressestand ist nur für Mitarbeiter vorgesehen. Damit nicht zu viele Pressevertreter gleichzeitig in der Halle kommen, ist die Anzahl der Einlasskarten streng begrenzt, beim Verlassen der Halle muss man sie sie wieder abgeben. Und das Publikum? Das sitzt zuhause und verfolgt die Live-Streams. Vor Ort sind nur die Mitarbeiter und ein paar Journalisten zugelassen.
Die Halle ist ein dunkler Raum, die Stühle stehen weit auseinander und dürfen nicht verrückt werden, dazu ein Technik-Arsenal aus Kameras, Mikrofonen, Bildschirmen, Mischpulten und Kabeln. Zwei Bühnen sind an den sich gegenüberliegenden Seiten der Halle aufgebaut. Auf der einen ist eine schräge Kulisse aufgebaut: ein riesiges Rehkitz, ein Raumschiff, ein Zelt.
Endlich wieder spielen dürfen
Für alle Musiker, mit denen ich am zweiten Tag des Moers Festivals sprechen darf, ist es der erste post-Corona-Auftritt. Alle sind überglücklich. "Jetzt habe ich das Gefühl, das Leben geht wieder los", sagt Silke Eberhard. Die deutsche Saxophonistin wurde vom Festival gebeten, eine sechsköpfige weibliche Formation zusammenzustellen: zwei Schlagzeugerinnen, Keyboard, Klavier, Saxophon und Stimme. Es war die erste Zusammenkunft des Projekts "51%"; der Name verweist auf den weiblichen Anteil der Weltbevölkerung. Wer sich noch nicht von Rollenklischees befreit und etwas Sanftes erwartet hatte, wurde eines Besseren belehrt. Die Sechs drehten auf, eine Klanglawine folgte der anderen. Das fetzige Spiel dürfte sogar die Computer der Livestream-Zuschauer im heimischen Wohnzimmer zum Zittern gebracht haben.
Die Musikerinnen haben sich für diesen Auftritt umgewöhnen müssen, so Silke Eberhard: "Normalerweise liebt man es, eng aneinander zu spielen und die Energie der anderen zu spüren. Wenn man zwei Meter oder mehr Abstand halten soll, ist das schon anders. Jetzt ist es eben: Man wirft sich die Töne zu. Das hat aber auch eine Qualität. Aber natürlich haben wir auf der Bühne Monitoren. Das hilft auch."
In der Halle ist die Elektronik allgegenwärtig. Auf den Schirmen bietet "Miss Unimoers" Ablenkung fürs Auge; sie wird von einem Mann mit blonder Perücke und Raumanzug dargestellt und zeigt als Zeitreisende 49 Jahre deutscher Geschichte - genau die Zeitspanne, die das Moers Festival existiert. Die Miss agiere vor dem Bluescreen, unterwandere das Geschehen und nehme die Leute mit, so der künstlerische Leiter in Moers, Tim Isfort.
Keine Tabus, auch sogar Klassik
Das Festival scheut keine Genres. Aber Klassik? Bei vielen angeblich so frei denkenden Musikliebhabern hört da die Toleranz auf. Nicht aber in Moers. Am ersten Tag musizierte das Auner Quartett aus Wien im Livestream. Auf der abgedunkelten Bühne sitzen vier Musiker im Smoking beziehungsweise Abendkleid und spielen vor leeren Stühlen ein spätes Streichquartett von Ludwig van Beethoven. Es geht in Mark und Bein: unfassbar traurig, ergreifend, erhebend. In der Kulisse schließt das Rehkitz die Augen, während Miss Unimoers, ansonsten zu allerlei anarchischen Aktionen aufgelegt, andächtig zuschaut.
Die fünf weiblichen Stimmen der Formation Sjaella und die Streicher des Auner Quartetts bringen Repertoire-Werke von Purcell bis Beethoven. Ganz anders die Formation Ventil um die Vokalkünstlerin Ute Wassermann. "Da stand gar nichts fest heute Abend", sagt sie. "Aufbau, Soundcheck - und dann haben wir gespielt." Es ist die erste Zusammenkunft der fünfköpfigen Freejazz-Formation. Die erste Hälfte des Sets wirkt anarchisch, in der zweiten Hälfte werden dann musikalische Strukturen spürbar. Man erlebt, wie die Musiker allmählich zueinander finden.
Das emphatische Spiel von Ventil ist vielleicht sinnbildlich für die Situation aller freischaffenden Künstler, die wegen des seit März bestehenden Veranstaltungs- und Reiseverbots vor dem Abgrund stehen. "Ich habe erstmal den Schock gehabt, als alles wegschwamm", sagt Wassermann. "Und dann gab es aus Berlin schnell und unbürokratisch eine Soforthilfe. Nun, wenn es ab Herbst, Winter weitergehen könnte..." Kann man bei der Existenzangst noch produktiv sein? "Eigentlich fand ich es ganz schön, zur Ruhe zu kommen", bejaht sie. "Fast wieder Studentin zu sein: forschen, lesen, alles machen, wofür man eigentlich sonst keine Zeit hat, wenn man im Hamsterrad sitzt."
Grenzübertritt und Grenzüberschreitung
Für die drei Jungs von PoiL aus Frankreich fällt die versprochene finanzielle Künstlerhilfe bisher aus. "Wir werden weiterhin Musik machen, aber wir wissen nicht, wie. Wir sind in abwartender Haltung", sagt Bassist Boris Cassone. Für das Passieren der noch geschlossenen Grenze zu Deutschland waren die drei mit allen nötigen Dokumenten gewappnet - und es passierte: nichts. In diesen sonderbaren Zeiten ist auch das eine Nachricht.
PoiL bringt durchkomponierte Stücke mit verrückten Song-Elementen. Zwei Mitglieder der Formation, der Schlagzeuger Guilhem Meier und der Keyboard-Künstler Antoine Arnera, treten auch solistisch auf: Meier mit einem Klangarsenal an seinem Schlagzeugset, Arnera alias Gwyn Wurst mit einem energiespendenden, spätabendlichen Keyboard-Einsatz.
Zwölf Auftritte am Tag: Wie hält man das als Streamkonsument durch? Abwechslung gibt es nicht nur durch die diversen Musikrichtungen, sondern auch in den etwa zehnminütigen Pausen: Zwischen Künstler-Interviews werden Nachrichten gelesen und Fotos gezeigt, die das Publikum über den Hashtag #vereinzeltversammelt einschickt. Eine schreibt, sie sei zum ersten Mal seit 44 Jahren nicht dabei. Das gibt einen Eindruck von der Treue des Moers-Publikums.
Beifall aus der Konserve
Nach den Einsätzen, auch zwischendurch, spendet die Moers-Community Beifall, allerdings in Form von Applaus-Aufnahmen aus vergangenen Jahrgängen. Nicht immer spornt das die Künstler an. "Ich finde es störend", sagt Antoine Arnera, "wie bei einer Fernseh-Sitcom. Ich muss jedes Mal lachen. Wir sind sehr daran gewöhnt, vor einem schreienden Publikum zu spielen. Hier in Moers fühlt es sich noch nicht ganz wie ein Festival an. Aber es ist schön, dass man es wenigstens versucht. Das ist sehr wichtig."
Bei dem Saxophonisten Niels Klein hingegen kommt durchaus Festival-Feeling auf. "Ein bisschen abstrakter diesmal", findet er, "wie eine Art Fernseh- oder Radioaufnahme. Aber wenigstens sitzen ein paar Leute rum. Das gibt eine lockere Atmosphäre, und eine Verbindung nach draußen spürt man auch. Es ist gut, Technologie auf diese Weise zu nutzen."
Das Festival ist noch lange nicht vorbei
Mit wie vielen Menschen bin ich an diesem einen Tag relativ nah zusammen gekommen? Mit 30? Oder 40? Es kommt dennoch kein mulmiges Gefühl auf: Das Risiko, den Virus einzufangen, war überschaubar. Bei einem Festival mit Publikum wäre das noch unmöglich. Wie lange die Krise dauert, kann niemand vorhersagen. Bis es soweit ist, hat das Moers Festival einen gangbaren Weg gezeigt.
Ich bin froh, dabei gewesen zu sein, andererseits traurig, dass es nur für einen Tag war. Die Streams, die nicht nur live, sondern auch auf Abruf angeboten werden, sind da mehr als ein Trostpflaster. Sie bleiben auch nach dem letzten Festivaltag am Pfingstmontag, dem 1. Juni, online und können hier abgerufen werden.