Ein Traum wird wahr
25. Dezember 2014Noch bevor mein Großhirn bewusst realisiert, was hier gerade geschieht, merkt es mein Körper. Auf meinen Unterarmen stellen sich blitzartig die Härchen auf. Es kribbelt auf der Haut. Hier geschieht gerade etwas außergewöhnliches, spüre ich und blicke mich um. Nach und nach erheben sich Tausende in Gelb gekleidete Menschen und applaudieren. Es ist ein immer lauter und stärker werdender Applaus - und ein sehr bemerkenswerter. Die brasilianischen Fans im Estádio Mineirão von Belo Horizonte sind aufgestanden, um dem Gegner Beifall zu spenden, aus Anerkennung. André Schürrle hat gerade für die deutsche Mannschaft das 7:0 gemacht. In Worten: Sieben zu null. In einem WM-Halbfinale. Irgendwie unwirklich. Ebenso unglaublich ist für mich aber auch die Reaktion der brasilianischen Fans, die sich vor Gegner Deutschland symbolisch verneigen. Mit Tränen des Schmerzes in den Augen stehen sie direkt neben mir und klatschen. Sie klatschen für etwas, das sie gerade tief verletzt hat und etwas, über das noch Generationen in Scham zurückdenken werden. Ein ergreifender Moment der Größe - für mich der Moment dieser Fußball-Weltmeisterschaft in Brasilien.
Die WM beginnt mit einem Lächeln
Dabei sollte das Beste aus deutscher Sicht ja noch folgen: der WM-Titel. Endlich, nach 24 Jahren des Wartens und Zweifelns können deutsche Spieler und Fans wieder die Arme in die Luft recken und feiern. Am Ende eines historischen Abends im Maracanã von Rio de Janeiro zeigt eine begeisternd spielende und aufopferungsvoll kämpfende deutsche Elf, dass es bei dieser WM nur einen logischen Weltmeister geben kann: Deutschland. Jener 13. Juli 2014 dürfte vielen Menschen hierzulande als Sternstunde in Erinnerung bleiben. Es ist der Tag, an dem sich die deutsche Nationalmannschaft für einen langen und steinigen Weg belohnt.
Auf den Tag genau fünf Wochen früher betreten müde blinzelnde deutsche Kicker zum ersten Mal den Trainingsplatz im kleinen Örtchen Santo André, einer 800-Seelen-Gemeinde. Nach einer rund 15-stündigen Anreise schickt Bundestrainer Joachim Löw seine Spieler schnurstracks auf den sattgrünen Rasen des neuangelegten Trainingsplatzes. Ich stehe an dessen Rand und wundere mich über das, was ich sehe. Gut gelaunt, feixend und plötzlich gar nicht mehr müde rennen die besten Fußballer Deutschlands über den Platz und vermitteln vor allem eins: Lockerheit. Die WM beginnt mit einem Lächeln im Gesicht des Bundestrainers, der seinen Spielern zuschaut. Sie sind gekommen mit einem großen Versprechen im Gepäck - den Titel wieder nach Deutschland zu holen. Die Erwartungen sind riesig, doch Jogis Jungs kicken fröhlich, als wär dies die DFB-Kinder-Fußballfreizeit.
Das Ende der spanischen Dominanz
Schon hier war es erkennbar, wird mir später klar: das Sieger-Gen dieser Mannschaft, die unbedingt wollte und dabei dennoch locker blieb. Erst recht nach diesem Auftakt: Mit 4:0 fegt eine unbekümmerte und von der Hitze Salvadors unbeeindruckte DFB-Elf dank eines überragenden Thomas Müller Portugal vom Platz. Der große Cristiano Ronaldo wirkt ziemlich klein, als er leise vom Platz schleicht. Laut sind dagegen die Lobeshymnen auf das deutsche Team in der Presse. Ebenso laut ist fünf Tage später allerdings auch die Kritik nach einem etwas glücklichen 2:2 gegen Ghana, bei dem insbesondere die neuformierte Abwehr instabil wirkt. Aus vier Innenverteidigern zusammengesetzt steht sie sinnbildlich für Löws Streben nach einer "kompakten Defensive", wie er immer wieder betont. Er weiß, seine genialen Künstler in der Offensive alleine können den Titel nicht holen. Das zeigt sich auch bei der "Regenschlacht von Recife". Mit viel Kampf und Körperlichkeit bezwingt die DFB-Elf eine robuste amerikanische Elf und ihren Coach Jürgen Klinsmann - der Gruppensieg ist perfekt.
Zu diesem Zeitpunkt ist die Weltmeisterschaft für Welt- und Europameister Spanien schon vorbei. Zwei krachende Pleiten der blutleer und überspielt wirkenden spanischen Armada gegen die Niederlande und Chile bedeuten auch das Ende einer Ära. Spaniens Vorherrschaft im internationalen Fußball seit 2008 ist gebrochen. Zerstört sind nach der Gruppenphase auch die Träume zweier anderer Fußballnationen: England und Italien scheiden vorzeitig aus. Die Three Lions verabschieden sich ohne einen Sieg aus dem Turnier und Italien scheitert an der eigenen Mutlosigkeit. Nur Catenaccio schießt eben keine Tore. Stattdessen überzeugen andere: Costa Rica, Mexiko, Chile, Kolumbien - es sind die süd- und mittelamerikanischen Teams aus der zweiten Reihe, die spielerisch wie taktisch beeindrucken. Allein mit der Gewohnheit der klimatischen Bedingungen ist dies nicht zu erklären, vielmehr wird offenkundig: Manche Mannschaften haben sich physisch intensiv auf dieses kräftezehrende Turnier vorbereitet, andere nicht.
Begeisterung, aber nicht die große Euphorie
Und Brasilien? Kurz wackelt die Seleção zum Auftakt gegen Kroatien, fängt sich dann aber doch noch. Groß ist der Jubel in der kleinen Bar do Jorjas von Santo André, wo ich das Spiel mit rund 30 Dorfbewohnern verfolge. Leidenschaftlich schimpfen sie erst über Starstürmer Neymar, um ihn anschließend leidenschaftlich zu feiern. In jedem Fall herzlich ist der brasilianische Empfang der Gäste aus aller Welt, auch den Reporter aus Alemanha nehmen sie sofort in ihre Mitte, teilen munter Bier und Gebratenes. Die ganz große WM-Euphorie vermisst man im Land in den ersten Tagen des Turniers dennoch. Ganz so, als wüssten die Brasilianer schon, dass die Heim-WM kein gutes Ende für sie nehmen wird.
Auch für Deutschlands Titelträume wäre beinahe früh das Ende gekommen. Im kühlen Porto Alegre wirken die begnadeten Ballkünstler der DFB-Elf wie steif gefroren. Gegner Algerien spielt mutig nach vorne, setzt das Team von Joachim Löw unter Druck. Zahlreiche Fehler in der Defensive zwingen Keeper Manuel Neuer zu waghalsigen Aktionen weit außerhalb seines Strafraums. Als Libero rettet er vor den freistehenden algerischen Angreifern - und spielt dennoch Vabanque. Um sekundenbruchteile ist er eher am Ball, entgeht einem sicheren Platzverweis. Die Geburt eines neuen "modernen Torhüters", wird Löw später sagen und gleichzeitig gewusst haben, dass hier auch etwas Glück im Spiel war.
Drama um Neymar
Im Viertelfinale gegen Frankreich braucht Deutschland kein Glück. Es reichen Mats Hummels Kopfball-Wucht, Manuel Neuers Reflexe und die Erkenntnis bei Bundestrainer Joachim Löw, dass Kapitän Philipp Lahm für diese Elf doch als rechter Verteidiger seinen größten Wert hat. Am Ende muss nicht nur Frankreich erkennen: Turnierfavorit? La Mannschaft!
Eine andere Erkenntnis dieser WM ist die Verrohung des Spiels. Da wäre das Beispiel des bissigen Luis Suárez, der seinen Gegenspieler Giorgio Chiellini am liebsten ein Stück Fleisch aus dessen Schulter genagt hätte. Da wäre aber auch die aufgepeitschte und manchmal grenzwertige Gangart der Brasilianer, die für den Erfolg sogar ihrem "Jogo Bonito" (schönes Spiel) abschworen. Dass ausgerechnet ihr Bester, Dribbelkünstler Neymar, einem überharten Einsteigen eines Gegners zum Opfer fiel, gehört zur tragischen Ironie dieser Geschichte.
"Ich habe keine Angst"
Geschichte schreibt dann das denkwürdige Halbfinale zwischen Brasilien und Deutschland. Während sich Deutschlands Auswahl in einen Torrausch schießt und wie im Training Treffer um Treffer erzielt, zerfällt Brasiliens einstiger Stolz in Trümmer. Jäher und schmerzhafter endete wohl noch nie ein WM-Traum vom Titel im eigenen Land. Ausgerechnet Erzrivale und Nachbar Argentinien macht es besser und gewinnt ein weitgehend unansehnliches Halbfinale im Elfmeterschießen gegen am Ende tief traurige Niederländer.
Was dann im Maracanã folgt, ist nicht nur die Neuauflage des WM-Finales von 1990, sondern auch das Spiel der Spiele für Bundestrainer Joachim Löw. Den "Unvollendeten" nennen ihn seine Kritiker bis zu diesem Tage. Ein Mann, der zwar das schöne Spiel in Deutschlands Fußball brachte, aber eben bis dahin noch keinen Titel. Mit den Worten "ich habe keine Angst" gibt Löw seiner Mannschaft die Losung fürs Finale. Und seine Spieler folgen ihm. Nicht einmal der geniale Messi kann die deutsche Elf an diesem Abend einschüchtern - im Gegenteil. Als Löw Mario Götze bei dessen Einwechslung ins Ohr flüstert, er solle zeigen, dass er besser ist als Messi, ist das der ultimative Ansporn. Denn in der 113. Minute materialisiert sich der Traum für Deutschlands Fußball, der Erfolg wird greifbar: André Schürrle flankt von linksaußen auf Mario Götze, der den Ball mit der Brust annimmt und anschließend im langen Eck versenkt. Bumm, einfach so.
Versprechen gehalten
Wenige Minuten später ist er da, der Schlusspfiff. Erlösung, Jubel, Feier, Tränen - alle Emotionen müssen raus. Übrigens auch links und rechts neben mir auf der Pressetribüne. Der Moment des Erfolges bewegt alle und gibt vor allem einem recht: Joachim Löw, der die Mannschaft 2006 übernahm und kontinuierlich verbesserte, weiterentwickelte. Mit einer besonderen Mischung aus Selbstbewusstsein, Akribie und Lockerheit erfüllen er und seine Spieler ihr Versprechen und holen als erste europäische Mannschaft in Südamerika den WM-Titel. Dass in den Monaten danach ein paar magere Auftritte folgen und zahlreiche Weltmeister Blessuren sowie Formschwächen in die neue Saison mitnehmen, ist wohl der Preis des Erfolges. Glauben sie mir, sie werden ihn gerne bezahlen.