Wall Street 2021: Weiter von Rekord zu Rekord?
31. Dezember 2020Es ist schon paradox. Während die Zahl der Corona-Neuinfektionen unaufhaltsam steigt, scheinen sich an den US-Leitbörsen die Sorgen zu verflüchtigen. An den Finanzmärkten hat sich in den vergangenen Wochen ein Optimismus breitgemacht, der sich zusehends in Euphorie verwandelt. Selbst negative Pandemie-Entwicklungen haben die Anleger längst größtenteils eingepreist.
Es sei die steigende Hoffnung auf eine Normalisierung der Wirtschaft, die die Märkte treibe, sagen Experten. "Die großen Durchbrüche bei den Impfstoffen im November und Dezember haben die Unsicherheit verringert", schreibt etwa Janet Henry, Chefökonomin bei HSBC, in ihrem Aktienausblick. Immer mehr Anleger positionierten sich daher schon jetzt, um von einer wirtschaftlichen Erholung in Zukunft zu profitieren. Die Angst, günstige Einstiegskurse zu verpassen, drängt die Investoren.
Auch die großen Fonds- und Investmenthäuser schauen mehrheitlich optimistisch auf das kommende Jahr. Sowohl der Finanzdienstleister Piper Sandler als auch die Investmentbank Oppenheimer und die Großbank JP Morgan prophezeien dem S&P500, Amerikas größtem Leitindex, deutlichen Auftrieb. In den kommenden zwölf Monaten könnte ihm ein satter Sprung über die Marke von 4.000 Punkten gelingen, das wäre ein Plus von bis zu 18 Prozent aus heutiger Sicht. Umfangreiche Fiskalpakete, weitere Notenbankspritzen und die damit einhergehende Konjunkturerholung werden von den Analysten als Kurstreiber genannt.
Comeback mit Gegenwind
Das Comeback der Märkte dürfte sich allerdings nicht ohne Gegenwind fortsetzen, glauben die Finanzleute. Die Nachrichten rund um den Impfstoff seien zwar positiv, heißt es etwa in einem Report bei BMO Capital Markets, trotzdem würden sowohl Pandemie als auch ihre beispiellosen Auswirkungen nicht über Nacht verschwinden.
Tobias Levkovich, Chefanlagestratege bei der Citigroup, glaubt, dass der US-Konjunktur angesichts erneuter Lockdowns vorerst deutliche Schwächephasen bevorstünden. "Die Impfstoffe geben zwar Hoffnung auf eine künftige Normalisierung, aber erstmal droht ein harter Winter", schreibt der Experte in seinem Jahresausblick.
Politik sorgt für Unsicherheit
Auch die designierte US-Regierung sorgt - zumindest aktuell - für Unsicherheit. Noch immer ist unklar, welche Partei den Senat und damit die gesamte Legislative kontrollieren wird. Zwei Stichwahlen in Georgia sollen das Rennen Anfang Januar entscheiden.
Die Märkte hofft man auf einen Sieg der republikanischen Partei, die Bidens progressive Reformen deutlich abschwächen würde. "Die Wall Street hofft, dass die Republikaner mindestens einen Sitz und damit die Mehrheit im Senat behalten, damit die Steuern nicht angehoben werden und Unternehmen zu viele Regulierungen drohen", sagt Finanzanalyst Scott Garliss von Stansberry Research.
Vor allem Tech- und Pharmasektor könnten so vorerst aufatmen. Sie müssten sich weder vor einer Zerschlagung noch vor deutlich stärkeren Arzneimittelkontrollen fürchten.
Energie-Sektor hofft auf Erholung
Auch die Öl- und Gasindustrie würde profitieren, wenn Trumps unternehmensfreundliche Politik in der kommenden Regierung weiterlebt. Ihr Fortbesehen wäre vorläufig gesichert, wenn die von Biden angekündigten Umweltregularien ausbleiben.
Sowieso stehe der Öl-Sektor vor einem prächtigen Jahr, heißt es bei der Schweizer Großbank UBS. Auf Jahressicht liege die Industrie zwar immer noch satte 38 Prozent im Minus. Gerade deshalb aber sei das Aufwärtspotenzial hier besonders hoch. Wie alle Zykliker, also besonders konjunkturabhängige Unternehmen, dürfte auch der Energie-Sektor von der fortschreitenden Erholung der Weltwirtschaft profitieren, glaubt UBS-Stratege Keith Parker. Mit zunehmendem Konsum und steigender Produktion werde die Öl-Nachfrage 2021 deutlich angeheizt.
Suche nach den wahren Werten
Nicht nur die Energiebranche befeuert damit einen Trend, der sich spätestens seit den ersten positiven Impfstoff-Nachrichten an den Märkten etabliert hat. Die sogenannte Sektorenrotation treibt die Anleger zunehmend weg von überhitzten Tech-Aktien, hin zu deutlich günstigeren Value-Werten. Das sind Unternehmen, deren Börsenwert deutlich unter ihrem Buchwert liegt.
"Im Zuge der Wirtschaftserholung werden Value-Aktien deutlicher schneller zurückkommen", prophezeit Garliss, der mehr als 20 Jahre an der Wall Street verbrachte. Dort investiere man schon jetzt in die entsprechenden Papiere, weil die Börsen der Realität gedanklich sechs bis acht Monate voraus seien.
Auf der Suche nach besonders gut laufenden Unternehmen sollten sich Anleger übrigens nicht von den Börsen-Schwergewichten blenden lassen. Gerade die großen Firmen haben einen Großteil der der wirtschaftlichen Erholung längst in ihren Kursen eingepreist, was ihre Aktien vergleichsweise teuer macht.
Die Small Caps wiederum, Firmen mit einem maximalen Börsenwert von 500 Millionen Dollar, seien hier in einer besseren Position, nicht nur weil sie vergleichsweise günstig sind, sagt Garliss. "Im Gegensatz zu den großen US-Konzernen erwirtschaften Small Caps bis zu 75 Prozent ihrer Umsätze in den USA, wo der Konsum im kommenden Jahr stärker anziehen dürfte als in Übersee."
Der Vergleich mit den großen US-Leitindizes zeigt: Schon in diesem Jahr konnte der Russell 2000, der Index mit Amerikas Nebenwerten, drei Mal so stark zulegen wie etwa der S&P500. Die Small Caps profitieren dabei vor allem von der Digitalisierung. Robotik, künstliche Intelligenz und Big Data, die in viele großen Unternehmen längst Standard sind, werden dort erst noch zum Margentreiber.
Einzelwerte statt Fonds
Wer von den Entwicklungen profitieren wolle, solle sich die Einzelwerte ganz genau ansehen, raten Experten. Statt wie in den vergangenen Jahren auf passive Indexfonds zu setzen, stehe 2021 das sogenannte Stock Picking, also die gezielte Auswahl von Aktien, im Mittelpunkt.
"Anleger werden sich auf die Fundamentaldaten einzelner Unternehmen und Sektoren konzentrieren müssen, um Ergebnisse zu erzielen, weshalb wir erwarten, dass aktiv verwaltete Strategien besser abschneiden werden als solche, die passiv in einen Index investieren", empfiehlt Lisa Shalett, Investitionschefin im Vermögensmanagement bei Morgan Stanley. Erfolgreiches Investieren könne Umschichtungen in der Vermögensstrukturierung, im Sektor, in der Geografie und in der Titelauswahl erfordern.
Zudem dürften nicht-amerikanische Aktien in Zukunft deutlich stärker abschneiden. "Chinakönnte in den nächsten Jahren die größte Volkswirtschaft der Welt werden, weshalb auch Unternehmen, die mit China Handel treiben, florieren könnten", glaubt Shallet. Die günstigsten Kaufgelegenheit werde man in Schwellenländern finden, in denen die Bewertungen im Gegensatz zur USA aktuell noch attraktiv seien
Doch auch in den USA dürfte es am Ende ein relatives erfolgreiches Börsenjahr werden, zumindest statistisch gesehen. In den ersten beiden Jahren eines neuen Bullenmarktes legen Aktien laut Analysen des Vermögensverwalters LPL Financial nämlich gut 65 Prozent zu. "Wir gehen davon aus, dass das Jahr 2021 in Sachen Gewinnwachstum das Potential hat, eines der besten Jahre überhaupt zu werden, was auch zu höheren Aktienkursen beitragen wird", schreibt Brian Belski von BMO Capital Market in seiner Börsenvorausschau. Profitieren davon dürften aber nur jene Anleger, die ihre Aktien in Zukunft ganz genau auswählen.