Globalisierung: Ist der Zenit überschritten?
3. April 2022Bestimmt haben Sie schon von der Globalisierung gehört. Aber von Deglobalisierung? Nun, Lieferkettenprobleme, Preissteigerungen, Engpässe - das alles könnte mit einer Entwicklung zusammenhängen, die als Deglobalisierung bekannt ist.
Einige Experten sehen sogar den Krieg in der Ukraine, in Kombination mit der Corona-Pandemie, als Wendepunkt hin zu einer deglobalisierten Welt. Aber welche Gestalt könnte diese neue Welt annehmen?
Ein kurze Einführung in die Globalisierung
Experten beschreiben üblicherweise drei Arten von Globalisierung: wirtschaftliche, gesellschaftliche und politische Globalisierung.
Wirtschaftliche Globalisierung ist die Vernetzung der Weltwirtschaft durch Handel. Dieser Prozess hat viele Befürworter und viele Kritiker. Globalisierung hole Menschen aus der Armut und erhöhe ihren Lebensstandard, verkünden ihre Verfechter. Allerdings werden die Gewinne der Globalisierung nicht geleichmäßig verteilt.
"International wie auch in den entwickelten Gesellschaften verstärkt sich die Ungleichheit", sagt Andreas Wirsching, Professor für Zeitgeschichte an der Universität München. "Da gibt es viele Gewinner, aber es gibt auch viele Verlierer, das kann man überhaupt nicht leugnen."
Zur Kehrseite der Globalisierung gehören auch ihre sozialen und ökologischen Folgen, betont Cora Jungbluth, Wirtschaftsexpertin bei der Bertelsmann Stiftung. Beschäftigte in Ländern mit hohen Einkommen haben erlebt, wie ihre Arbeitsplätze in Länder mit Billiglöhnen abgewandert sind, während "internationale Konzerne die dreckigen Produktionsschritte in Entwicklungs- und Schwellenländer verlagert und dort Umweltprobleme geschaffen haben".
Erster Einschnitt: Die weltweite Finanzkrise
Globalisierung beschreibt also einen Prozess zunehmender gegenseitiger wirtschaftlicher Abhängigkeit - die Deglobalisierung markiert dagegen einen Rückzug von weltweiter ökonomischer Verflechtung. Und es gibt Hinweise, dass das schon seit einiger Zeit passiert.
Ein Schlüsselfaktor der Globalisierung - der Anteil des Warenhandels am Welt-Bruttoinlandsprodukt (BIP) - erreichte seinen Höhepunkt 2008, als die weltweite Finanzkrise begann. "Weltweit stieg der Anteil der Warenexporte am Bruttoinlandsprodukt in den 1990er und 2000er Jahren außerordentlich stark an. Aber seit der Finanzkrise 2008 und 2009 ist die Kurve flach oder liegt am Boden", erklärt Douglas Irwin, Wirtschaftswissenschaftler am Dartmouth College in New Hampshire, USA.
Diese Veränderungen stehen im Zusammenhang mit Populismus und protektionistischer Wirtschaftspolitik, sagen Douglas Irwin und andere Experten. Dazu kommen aber noch andere wichtige Faktoren, die die Globalisierung bremsen.
Dann kam die Pandemie
Aus ökonomischer Sicht ist die Corona-Pandemie berüchtigt geworden für Störungen der Lieferketten. Wer könnte die resultierenden Engpässe vergessen, die steigenden Preise, die Hamsterkäufe - den Moment, in dem Sie Ihre letzte Rolle Klopapier angebrochen haben?
Diese Störungen haben einen grundlegenden Wandel der Lieferkettenplanung in Gang gesetzt, erläutert Megan Greene, Wirtschaftsexpertin an der Harvard Kennedy School. "Die Pandemie hat die Tendenz zur Just-in-time-Produktion, also zur Herstellung für den unmittelbaren Verbrauch, in Richtung Vorratshaltung verschoben." Das neue System ist besser auf unvorhergesehene Umstände vorbereitet. Megan Greene beschreibt es als "weltweite Lieferkette plus Notfallplan", sodass Unternehmen Lieferkettenprobleme leichter auffangen können.
Innerhalb dieses Lieferketten-Plus-Modells, fügt Cora Jungbluth hinzu, erwägen Staaten und Konzerne, die Lieferketten zu kürzen: "Sie können vielleicht nach Hause geholt werden, die Produktion von entscheidenden Waren und Technologien näher an die Produktionsstätten." Die Folge wäre eine höhere Krisensicherheit der Versorgung - was im Wesentlichen bedeutet: Weg von der Globalisierung mit ihrem Fokus auf Effizienz und Rentabilität.
Und jetzt der Krieg in der Ukraine
Verbraucher spüren derzeit die Folgen der russischen Invasion in der Ukraine und der Sanktionen gegen Russland, vor allem im Energie- und Lebensmittelsektor. "Uns fehlen die Energieimporte, denn Europa braucht die fossile Energie aus Russland", so Thieß Petersen, Wirtschaftsexperte und Kollege von Cora Jungbluth bei der Bertelsmann Stiftung. "Und die ganze Welt braucht Agrarprodukte aus Russland und der Ukraine."
Russland und die Ukraine sind weltweit mit die wichtigsten Exporteure von Weizen und Sonnenblumenöl. "Die Rohstoffpreise sind durch den Krieg stark gestiegen, vor allem für Weizen und Öl, jedenfalls anfänglich", bekräftigt Douglas Irwin. Das treibt die Verbraucherpreise in die Höhe, was wiederum die Inflation anheizt. Die Sanktionen gegen Russland isolieren derweil eine große Volkswirtschaft vom Rest der Welt.
Wirtschaftsexperten sehen hier nicht nur eine Entflechtung der bisher verbundenen Märkte, sondern auch eine Umkehr des Fortschritts, den die Globalisierung mit sich gebracht hat. Hohe Preise und einen Mangel an Grundnahrungsmitteln werden nicht nur die Menschen in reichen Ländern zu spüren bekommen, sondern auch die in Entwicklungs- und Schwellenländern. In Staaten, die hochgradig abhängig von preiswerten Weizen- und Ölimporten sind, "könnte das zu einer Hungersnot führen", fügt Cora Jungbluth hinzu.
An der Schwelle zur Deglobalisierung
Die weltweite Finanzkrise, der darauf folgende Protektionismus, die Neuordnung der Lieferketten aufgrund der Pandemie, die Entflechtung der Rohstoffmärkte aufgrund des Kriegs in der Ukraine - all das lässt Thieß Petersen schlussfolgern: "Vielleicht stehen wir am Anfang einer Art Deglobalisierung."
Doch es gibt keine Maßeinheit, in der Globalisierung gemessen werden kann, warnt Megan Greene. Es werde seit der Pandemie behauptet, dass Industriearbeitsplätze aus Billiglohnländern zurück ins nahe Ausland oder gleich ganz ins Inland verlegt und Lieferketten regionalisiert worden seien. Megan Greene bezweifelt das. Statistische Erhebungen beispielsweise unterstützten diese Darstellung nicht. "In der jüngsten Umfrage der Handelskammer von Shanghai haben null US-amerikanische Firmen angegeben, dass sie ihre Produktion zurückverlagern aus China in die USA."
Allerdings: Obgleich langfristige Investitionen in China zügig vorankommen, wurden kurzfristige Anlagen zurückgezogen, nachdem Russland die Ukraine überfallen hatte - das könnte auf eine mögliche Wende hinweisen. Selbst Megan Greene gesteht ein, dass "der Höhepunkt der Globalisierung hinter uns liegt. Die Globalisierung schreitet viel langsamer voran als bisher, aber wir sind noch nicht bei einer Deglobalisierung angekommen."
Wirtschaftsblöcke statt globaler Verflechtung
Sanktionen des Westens gegen Russland und Kapitalflucht aus China deuten auf einen umfassenden Trend, glaubt Cora Jungbluth. "In den vergangenen Jahren haben sich viele Staaten bemüht, sogenannte kritische Abhängigkeiten zu reduzieren, was auch zu einer Deglobalisierung führen kann."
Während des Kalten Krieges, erinnert Douglas Irwin, haben sich bestimmte Staaten, die die gleiche politische Linie vertraten, auch wirtschaftlich einander angenähert und zu anderen Staaten Abstand gehalten - da sieht er eine Parallele zur derzeitigen Entwicklung.
Cora Jungbluth, Thieß Petersen und andere Wirtschaftsexperten glauben, dass die Welt sich gerade in zwei deutlich unterschiedene wirtschaftliche Blöcke teilt: Der eine umfasst demokratische marktwirtschaftliche Staaten (die EU, die USA und der ganze amerikanische Kontinent, Japan, Südkorea, Australien und Ozeanien), der andere Block besteht aus autokratischen Staaten (China, Russland und ihre wichtigsten Handelspartner).
"Was wir hier sehen, ist die Rückkehr der Geopolitik", so Cora Jungbluth, "und solche Entwicklungen führen auch zu einer Deglobalisierung - es ist der Versuch, die wirtschaftliche Abhängigkeit von weniger gleichgesinnten Ländern zu verringern."
Also, stehen wir an der Schwelle zu einem neuen Zeitalter? "Das ist ja eine beliebte Diskussion", sagt Historiker Andreas Wirsching. "Die beiden Daten, die kann man ja fast zusammen denken: die Pandemie 2020 und jetzt dieser Angriffskrieg 2022. Wir haben das Gefühl, dass sich hier etwas grundsätzlich ändert. Aber wie wir die verschiedenen Faktoren dann zusammen sehen, das wird sich erst später zeigen."
Adaption aus dem Englischen: Beate Hinrichs