Hat Israel eine Strategie für die Zeit nach dem Krieg?
11. Oktober 2024Der Krieg zwischen Israel und der Hamas geht bereits ins zweite Jahr, und noch immer ist kein Ende in Sicht. Wie dieser Krieg beendet werden kann, und wie es danach weitergehen soll, dazu äußert sich die israelische Regierung eher vage. Konkrete Pläne nennt sie nicht.
Sowohl die Regierung als auch Ministerpräsident Benjamin Netanjahu sprechen von einem "totalen Sieg". Was das in der Praxis bedeutet, ist jedoch offen und viele Beobachter sind überzeugt, dass auch in der israelischen Regierung keine einhellige Meinung darüber besteht. Die Hamas wird von den USA, der EU, Kanada und anderen als Terrororganisation eingestuft.
Der Status quo wird zum Krieg
Jahrelang versuchten Netanjahu und die verschiedenen Regierungen unter ihm, im Konflikt mit den Palästinensern den Status quo zu erhalten. Im Hebräischen ist dieser Ansatz als "Nihul HaSikhsukh" oder "Konfliktmanagement" bekannt: Die bestehende Situation soll unter allen Umständen beibehalten werden.
Aufgerieben zwischen den Forderungen seiner rechten Wähler und der Notwendigkeit, eine Lösung für die Lage im besetzten Westjordanland und in Gaza zu finden, schob Netanjahu eine Entscheidung immer wieder auf.
Israelischen Medienberichten zufolge erklärte Netanjahu 2019, dass ein Teil seiner Strategie darin bestehe, die Spaltung zwischen den palästinensischen Fraktionen im Westjordanland und in Gaza aufrechtzuhalten, indem er Geldtransfers aus Katar an die Hamas erlaubte. Doch seit dem 7. Oktober 2023 betrachten viele Israelis diese Strategie nicht nur als gescheitert, sondern auch als tödlich.
Denn an diesem Tag kamen rund 1200 Menschen, die meisten davon Zivilisten, bei den Terrorangriffen ums Leben. Die verschiedenen islamistischen Gruppierungen, die diese Angriffe unter Führung der Hamas verübten, entführten zudem etwa 250 Personen nach Gaza. 101 dieser Geiseln werden dort noch immer festgehalten.
Es war der schlimmste Terrorangriff in der Geschichte Israels und das tödlichste Massaker an Juden seit dem Holocaust. Die israelische Regierung sah sich gezwungen, etwas zu tun, was sie bei früheren Eskalationen mit der Hamas vermieden hatte: Sie erklärte offiziell den uneingeschränkten Krieg.
"Keine Offensive, kein Einsatz, ein Krieg", stellte Netanjahu klar, als er von den Angriffen am 7. Oktober erfuhr.
USA fordern 'politische Strategie' im Umgang mit der Hamas
Doch ein Jahr nach dem Beginn des Krieges gegen die Hamas und nur wenige Wochen nach dem ersten Vorstoß Israels im Südlibanon scheint Netanjahu zu seinen alten Gewohnheiten zurückzukehren. Und dies zu einer Zeit, in der die israelischen Sicherheitsbehörden mehr Entschlossenheit im politischen Entscheidungsprozess fordern.
Zwar betont das israelische Militär einerseits, es habe den militärischen Flügel der Hamas "auf militärischer Ebene" geschlagen und dieser könne nur noch als Guerillagruppe agieren. Andererseits gibt es kaum Neues über eine Rückkehr der 101 Geiseln zu berichten, die sich weiterhin in der Hand militanter Gruppierungen in Gaza befinden.
Noch immer kommt es zudem regelmäßig zu Angriffen innerhalb Israels. Bei der jüngsten Eskalation mit dem Libanon haben Soldaten ihr Leben verloren und Tausende Israelis mussten ihr Zuhause verlassen.
Auf libanesischer Seite meldete das Gesundheitsministerium nach den israelischen Luftangriffen Ende September mindestens 274 Tote und 1.024 Verletzte. Nach der jüngsten israelischen Attacke am 10. Oktober im Zentrum von Beirut bestätigten die Behörden den Tod von mindestens 22 Menschen.
Die USA, Israels engster Verbündeter, fordern von Netanjahu eine Strategie für die Zeit nach dem Krieg und die Zukunft der Region. Im Mai traf sich US-Sicherheitsberater Jake Sullivan zu Gesprächen mit Netanjahu, dem israelischen Präsidenten Isaac Herzog und weiteren Regierungsvertretern.
Dabei habe er "die Notwendigkeit für Israel betont, seine militärischen Einsätze an eine politische Strategie zu knüpfen, die eine dauerhafte Niederlage der Hamas, die Freilassung aller Geiseln und eine bessere Zukunft für Gaza gewährleistet", so Sullivan nach seinem Besuch in Israel.
Wo soll es hingehen?
Die Mehrheit der israelischen Bevölkerung glaubt, dass der Regierung klare Ziele fehlen. Laut einer kürzlich von der Denkfabrik The Jewish People Policy Institute durchgeführten Umfrage machen 57 Prozent der Bevölkerung das Fehlen klarer Ziele dafür verantwortlich, dass der Krieg schon so lange anhält.
76 Prozent der Israelis glauben außerdem, dass sich der Krieg in die Länge zieht, weil die Regierung zu lange benötigt, um Entscheidungen zu treffen. Nach Meinung vieler spielen auch Überlegungen der Koalitionsregierung zum eigenen politischen Überleben eine Rolle.
Netanjahus Likud-Partei hat in den vergangenen Wochen in den Umfragen zwar zugelegt, die rechts stehende Koalitionsregierung liegt jedoch weiter hinter den Oppositionsparteien zurück. 55 Prozent sind überzeugt, dass auch deswegen der Krieg verlängert wird.
So fordert die extreme Rechte Angriffe auf den wichtigsten Unterstützer der Hisbollah, den Iran. Die Moderaten in Netanjahus Regierung halten hingegen eine Zusammenarbeit mit den USA für den richtigen Weg.
In den vergangenen Wochen töteten die israelischen Streitkräfte nicht nur den lang gesuchten Anführer der Hisbollah, Hassan Nasrallah, sondern auch anderes Führungspersonal der Miliz. Teheran hatte als Antwort auf die Tötung Nasrallahs und anderer Hisbollah-Anführer 200 Raketen in Richtung Israel abgeschossen.
Die Vereinigten Staaten drängen Israel, diese nachrichtendienstlichen und militärischen Operationen in politische Erfolge zu verwandeln. Eine mit den Überlegungen der israelischen Regierung vertraute Quelle berichtete der US-Zeitung Washington Post, Israel habe eine Strategie für den Kampf gegen die Hisbollah, aber "nicht zwingend eine Strategie für das, was danach kommt, wie die Sache beendet wird".
Keine Zwei-Staaten-Lösung
Was den von Netanjahu propagierten "totalen Sieg" betrifft: Am 6. Oktober sollte der Ausschuss für auswärtige Angelegenheiten und Verteidigung des israelischen Parlaments zusammenkommen, um die Begriffe "Sieg" und "Niederlage" offiziell zu präzisieren. Das Treffen wurde abgesagt.
Das Fehlen einer Strategie hat auch Konsequenzen für die Zeit nach dem Krieg. Die extreme Rechte in der Regierung möchte die Siedlungen im Westjordanland, die von der internationalen Gemeinschaft überwiegend als illegal betrachtet werden, ausdehnen. Einige von ihnen sähen sogar gerne wieder israelische Siedlungen im Gazastreifen.
Doch die Stimmen aus der arabischen und muslimischen Welt, die im Gegenzug für die Gründung eines palästinensischen Staates eine Normalisierung der Beziehungen mit Israel fordern, sind lauter geworden. Stimmen, die bis vor kurzem nur hinter verschlossenen Türen oder in vertraulichen Gesprächen zu hören waren.
Ayman Safadi, der Außenminister Jordaniens, ist der ranghöchste arabische Politiker, der sich zu diesem Thema geäußert hat. Auf einer Pressekonferenz nach der Rede Netanjahus vor der UN-Generalversammlung im September sagte Safadi, die arabische und muslimische Welt sei gewillt, die Sicherheit Israels zu garantieren, wenn die Regierung der Gründung eines palästinensischen Staates in den Grenzen vor 1967 zustimme.
Israel habe eine Zwei-Staaten-Lösung abgelehnt, meint Safadi. Die israelische Regierung selbst nimmt zu einer Zwei-Staaten-Lösung nicht Stellung, mehrere Regierungsangehörige haben sich jedoch öffentlich entschieden gegen einen möglichen eigenen Staat für die Palästinenser ausgesprochen.
"Können Sie die Vertreter Israels fragen, was ihr Ziel ist, außer Krieg, Krieg und noch mehr Krieg?", fragte Safadi.
Adaptiert aus dem Englischen von Phoenix Hanzo.