Mehr Chancen für Azubis mit Behinderung
15. Mai 2014Seit fünf Jahren reden alle davon: Inklusion. Im März 2009 unterschrieb Deutschland die UN-Behindertenrechtskonvention. Seitdem steht schwarz auf weiß geschrieben, dass Menschen mit Behinderungen mehr Rechte, mehr Normalität, mehr Chancen haben sollen: auch in der Berufswelt. Marcel Bergmann ist einer von denen, die das geschafft haben. Er zählt zu jenen 3,3 Millionen Menschen in Deutschland im erwerbsfähigen Alter, die einen Behindertenausweis im Portemonnaie tragen.
Schon als Kind konnte er sich schwer konzentrieren, seine schulischen Leistungen hinkten hinterher, er besuchte eine Förderschule. Später kam er in einer Behindertenwerkstatt unter - die Aussicht auf einen bezahlten Job war gering. Plötzlich erhielt er das Angebot für ein Praktikum im Hausmeisterbetrieb bei der Leipziger Wohnungs- und Baugesellschaft. Das ist nun drei Jahre her. Heute arbeitet Marcel Bergmann dort als Hausmeisterhelfer. "Ich achte auf Ordnung und Sauberkeit und sehe in den Papierkörben nach, ob sie geleert werden müssen", erklärt er stolz.
Lehrstelle statt Behindertenwerkstatt
Mit seinem festen, bezahlten Job ist der 28-Jährige in Deutschland eine Ausnahme. 14 Prozent der Menschen mit Behinderungen im erwerbsfähigen Alter sind arbeitslos, ein Großteil arbeitet in Behindertenwerkstätten. Um Menschen mit Behinderungen am Arbeitsmarkt teilhaben zu lassen, finanziert die deutsche Regierung nun bis zum Jahr 2018 sogenannte "berufsbildende Maßnahmen" mit 100 Millionen Euro.
An diesen Schulungen, die Jugendliche fit für eine Ausbildung und den Beruf machen sollen, nahmen laut aktuellem Berufsbildungsbericht der Bundesregierung im vergangenen Jahr rund 40.000 Jugendliche teil. Doch nur rund 10 Prozent von ihnen haben sich am Ende bei der Bundesagentur für Arbeit auf eine Ausbildungsstelle beworben.
Neues Ausbildungskonzept für Hausmeister
Der erste Arbeitsmarkt in Deutschland ist auf Bewerber mit Behinderungen noch nicht eingestellt, die Leipziger Wohnungs- und Baugesellschaft schon: Die Kollegen nahmen Bergmann freundlich auf, unterstützten ihn. Er war der erste Arbeitnehmer mit Behinderung, den die Firma 2011 zeitweise beschäftigte. Mittlerweile haben sechs Prozent der Angestellten des Leipziger Unternehmens einen Behindertenausweis.
Nun möchte die Firma daran arbeiten, Menschen wie Marcel Bergmann nicht nur zu beschäftigen, sondern sie auch auszubilden. "Wir planen als Hausmeisterbetrieb, für die Zukunft einen qualifizierten Lehrgang aufzulegen, der geprüft wird und der gewisse Unterrichtsstunden voraussetzt", sagt der kaufmännische Leiter des Hausmeisterbetriebs, Alexander Pank. Wenn Marcel Bergmann sich weiter so gut entwickelt, könne er zumindest Teile davon absolvieren und so eine Qualifizierung erhalten.
Förderschulsystem benachteiligt Jugendliche
Was für den jungen Hausmeisterhelfer Marcel Bergmann bis vor ein paar Jahren unerreichbar schien, wird dann Realität: ein Berufsabschluss. Der ist nämlich die Voraussetzung für Menschen mit Behinderungen, überhaupt eine Arbeit zu finden. Noch immer ist die Arbeitslosenquote unter ihnen mehr als doppelt so hoch. Eine Ursache liegt für Professor Andreas Hinz von der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg in der langen Tradition des deutschen Bildungssystems, das Menschen stark nach Fähigkeit und Leistung differenziert.
"Es gibt kaum ein Land mit einem so hoch spezialisierten Förderschulsystem", sagt der Professor für Allgemeine Rehabilitations- und Integrationspädagogik. Nur selten gelinge es den jungen Menschen, die Parallelwelt aus Behindertenwerkstätten und Fördereinrichtungen zu verlassen. Mehr als die Hälfte der Förderschul-Absolventen hat keinen Hauptschulabschluss - gerade sie haben besondere Schwierigkeiten beim Übergang in die berufliche Bildung. Wo es kein Förderschulsystem mehr gibt, sieht das deutlich besser aus. In skandinavischen Ländern wie Norwegen etwa liegt die Inklusionsrate in Schulen bei 85 Prozent - und damit haben Studien zufolge auch deutlich mehr Jugendliche mit Behinderung eine Chance auf einen Schulabschluss und eine Lehrstelle.
Flexiblere Ausbildungsmodelle
Jana Zehle, Dozentin für Inklusive Pädagogik und Didaktik an der Universität Leipzig, plädiert deshalb dafür, Ausbildungsprozesse zu flexibilisieren. "Es wäre sinnvoll, die Ausbildung so zu verlängern oder zu modularisieren, dass man einzelne Abschnitte absolvieren kann und vielleicht erstmal eine Teilqualifikation erwirbt", sagt sie. Kürzere Ausbildungszeiten, individuelles Lernen und persönliche Betreuung - abgestimmt auf den jeweiligen Menschen und seine Beeinträchtigung, das braucht die Zukunft. Nicht jedes Unternehmen wird sich diesen personellen Mehraufwand leisten können, so wie nicht jeder Mensch mit Behinderung die Fähigkeiten mitbringt, die eine Ausbildung verlangt.
Marcel Bergmann hat Glück gehabt. Er wird vielleicht bald einen Abschluss in der Tasche haben, der ihn auf seinem Weg in ein selbstständiges Leben voran bringt - so wie jeder Tag Arbeit schon jetzt. "Er hat am Ende so viel in der Lohntüte, dass er sein Leben ganz gut bestreiten kann", erklärt Alexander Pank. Marcel Bergmann hat kürzlich seinen Führerschein gemacht und ist nun stolzer Besitzer eines Autos.