Nach der Wahl ist vor der Arbeit
25. Mai 2014Die neuen Abgeordneten des Europäischen Parlaments müssen sich erst einmal gedulden. Erst Anfang Juli treten sie in Straßburg zu ihrer konstituierenden Sitzung zusammen - und könnten dann über den neuen Kommissionspräsidenten abstimmen. Ob sich Parlament und die Staats- und Regierungschefs allerdings bis dahin auf einen Kandidaten verständigt haben, ist unklar.
Aber nicht nur in schlagzeilenträchtigen personalpolitischen Fragen treten die Abgeordneten zum Kräftemessen mit dem Europäischen Rat und später dann der neuen Kommission an, auch in vielen inhaltlichen Fragen müssen sie schnell Position beziehen.
Freihandelsabkommen mit den USA
Der Streit um das geplante Freihandelsabkommen mit den USA (TTIP) war das Aufregerthema des Wahlkampfes. Während sich die Befürworter einer Freihandelszone für 800 Millionen Bürger eine Belebung des Handels zwischen den beiden Wirtschaftsmächten erhoffen, fürchten die Gegner die Aufweichung strenger europäischer Standards - der Streit um Chlorhühnchen oder gen-manipulierte Lebensmittel sind Beispiele dafür.
Wie in Handelsfragen üblich, führt allein die Europäische Kommission die Verhandlungen mit der US-Regierung. Gebunden ist sie dabei an ein Mandat, das die damals noch 27 EU-Staaten der Kommission im Juni 2013 erteilt haben. Die Parteien wollten den Vertrag ursprünglich bis Ende des Jahres aushandeln. Das Vorhaben dürfte sich allerdings mindestens um ein Jahr verzögern. Die neuen Abgeordneten haben also deutlich mehr Zeit, um Einfluss auf die Verhandlungen zu nehmen. Ob ein unterschriftsreifer Vertrag am Ende überhaupt in Kraft tritt, liegt ebenfalls in ihrer Hand: Nur mit Zustimmung des Europaparlaments wird der Vertrag ratifiziert. Dass dies mehr ist als eine Formsache, hat das Parlament schon einmal bewiesen: Im Juli 2012 stoppte es nach Protesten in der Öffentlichkeit das Anti-Produktpiraterie-Handelsabkommen ACTA.
Bis zu einem möglichen Verhandlungsabschluss können die Abgeordneten öffentlichkeitswirksam auf der Parlamentsbühne, aber auch hinter den Kulissen auf die Gespräche zwischen Brüssel und Washington einwirken. Zum Beispiel über die "TTIP Monitoring Group", in die jede Fraktion einen Abgeordneten entsendet. Sie haben Zugang zu allen Verhandlungspapieren und werden von der EU-Kommission genauso kontinuierlich über den Fortgang der Gespräche informiert wie der Handelsausschuss des Parlaments.
Datenschutz-Verordnung
Es war ein Urteil mit Donnerhall, das die Richter des Europäischen Gerichtshofes in Luxemburg wenige Tage vor der Europawahl gefällt haben. Es gibt in Europa ein "Recht auf Vergessen" im Internet. EU-Bürger können von Suchmaschinen-Betreibern unter gewissen Umständen verlangen, dass diese personenbezogene Daten aus den Ergebnislisten löschen.
Entschieden haben die Richter noch auf Grundlage einer Europäischen Datenschutzrichtlinie aus dem Jahre 1995, die neue Datenschutzverordnung - angepasst an die Erfordernisse des Internet-Zeitalters - liegt aber entscheidungsreif auf dem Tisch. Nach jahrelangen Verhandlungen hat sie das Europaparlament im März mit großer Mehrheit verabschiedet. Doch bislang haben die nationalen Regierungen dieser Verordnung für einen besseren Schutz der Privatsphäre im Netz nicht zugestimmt. Der zuständige Berichterstatter im Parlament, der Grünen-Abgeordnete Jan Philipp Albrecht, macht im DW-Interview Druck auf die zögerliche Regierung in Berlin: "Wir müssen die Bundesregierung endlich an ihre Verantwortung erinnern. Wenn die Regierungen nichts tun, dann passiert in dieser Frage nichts." Sollten die Regierungen Änderungen an der Verordnung verlangen, sind sie auf die Kooperation des Parlaments angewiesen.
Die Statik der Europäischen Union
Griechenland, Irland, Portugal: In den vergangenen fünf Jahren arbeitete die Europäische Union im Krisenmodus. Dieser "politische Ausnahmezustand" hat vor allem den Staats- und Regierungschefs in die Karten gespielt. Alle Blicke richteten sich auf die nächtlichen Gipfel zur Krisenlösung. "Die Europäische Union ist sehr 'ratslastig' geworden", sagt Jan Techau von der Denkfabrik "Carnegie Europe". Eine Entwicklung, die auch dem sozialdemokratischen Spitzenkandidaten Martin Schulz Sorgen bereitet. "Die Vergipfelung, die Inflation von und die Fixierung auf die Treffen der Regierungschefs, schließt das einzig direkt gewählte Organ der Gemeinschaft, das Europäische Parlament, von den Entscheidungsprozessen weitgehend aus", klagte Schulz bei seiner Antrittsrede als Parlamentspräsident im Januar 2012.
Gelingt es den Abgeordneten, diesen Prozess noch einmal umzukehren? Die erstmals eingeführte Kandidatur von europaweiten Spitzenkandidaten könnte dem Parlament eine größere Legitimation verschaffen. Ein Machtkampf mit den Staats- und Regierungschefs bei der Wahl des neuen EU-Kommissionspräsidenten wäre auch eine Gelegenheit zur Profilierung - aber eine mit offenem Ausgang.
Klimapolitik
Nicht nur in der Finanzpolitik hat der Europäische Rat in den vergangen Jahren seinen Einfluss ausgebaut. Auch in Klima- und Energiefragen haben die Staats- und Regierungschefs das Europaparlament ausgebremst. Ein Beispiel dafür ist der sogenannte 2030-Prozess über die europäischen Klimaziele für das Jahr 2030. Während sich das Parlament für drei ambitionierte Ziele ausgesprochen hat - CO2-Reduktion, Ausbau der Erneuerbaren und Verbesserung der Energieeffizienz - zeigen sich die Staats- und Regierungschefs weniger ambitioniert.
Wenn die Parlamentarier ihren Einfluss geltend machen wollen, bleibt ihnen nur wenig Zeit: Die endgültige Entscheidung über den energie- und klimapolitischen Rahmen der EU bis 2030 soll im Oktober 2014 fallen. Im Anschluss daran steht die nächste große Welt-Klimakonferenz auf der Agenda der Abgeordneten. Sie findet im kommenden Jahr in Paris statt.
Banken-Union
Die Lage in den Staaten Südeuropas habe sich zwar stabilisiert, aber krisenfest sei Europa noch lange nicht, analysiert Guntram B. Wolff vom Brüsseler Thinktank Bruegel: "Die Stabilität ist ein bisschen höher - aber nur ein bisschen." Um Europa vergleichbare schwere Finanzkrisen in Zukunft zu ersparen, hat die Europäische Union eine Banken-Union gegründet. "Die große Hoffnung ist, dass die Europäische Zentralbank als neue Aufsichtsbehörde härter durchgreifen wird gegen Bankenprobleme als es die nationalen Aufsichtsbehörden gemacht haben", fasst der Wirtschaftswissenschaftler die Stoßrichtung dieses weit reichenden Integrationsschrittes in der Europäischen Union zusammen. Die Rahmengesetze für diese Union haben Parlament und Rat bereits verabschiedet, viele Detailfragen müssen allerdings in den kommenden Monaten noch geklärt werden.