Neue Leitung: Das 72. Filmfestival Locarno
6. August 2019"Das Kino soll uns helfen, unsere Wohlfühlzonen zu verlassen und uns den drängenden und verunsichernden Fragen der Gegenwart zu stellen", sagte die 41-jährige Lili Hinstin im Vorfeld der 72. Ausgabe (07.-17.08.2019) des traditionsreichen Festivals in der Schweiz. Für die junge Französin ist es die erste Festivalausgabe, für die sie als künstlerische Leiterin verantwortlich ist. Hinstin löste im vergangenen Jahr den Italiener Carlo Chatrian ab, der in die deutsche Hauptstadt zur Berlinale wechselte.
Das Autoren-Kino wird in Locarno traditionell gepflegt
Ein Blick aufs Programm gibt erste Hinweise: viel engagiertes, junges Kino, unkonventionelle Formen, Filme aus allen Regionen der Welt. Das mag für Locarno nicht so sonderlich sensationell sein, schon lange steht das Festival, das so malerisch auf der Schweizer Seite des Lago Maggiore liegt, für ein Kino abseits des Mainstream. Doch Hinstin wird dieses bewährteFestival-Konzept, das den Autorenfilm fördert, möglicherweise ein wenig weiter ausreizen: mehr Filme von Frauen, mehr politische Akzente, mehr Außenseiterthemen.
In einem Interview mit der "Neuen Zürcher Zeitung" schlug Hinstin schon einmal ein paar konzeptionelle Eckpfeiler ein: "Ich werde ständig nach #MeToo gefragt, nach der Rolle als Frau in meiner jetzigen Position", so Hinstin. Das sei zwar ein wichtiges Thema, "aber wir müssen die Diskussion über unterdrückte Minderheiten weiter fassen."
Schwarzes Kino statt Komödien aus den USA in der Retrospektive
Da kam die Bitte des "Blake Edwards Estate", die eigentlich für 2019 vorgesehene Retrospektive zum amerikanischen Komödienspezialisten Blake Edwards auf 2020 zu verschieben, gerade recht. Bei der filmhistorischen Schau 2019 wird nun das Black Cinema im Mittelpunkt stehen. Die für das kommende Jahr geplante Retrospektive "Black Light" wurde kurzfristig vorgezogen. Angesichts der gerade wieder hochaktuellen Debatte über Rassismus in Trumps Amerika sicher eine glückliche Fügung. Jetzt stehen Filme von Regisseuren wie Spike Lee, Charles Burnett und Sidney Poitier auf dem Programm, aber auch von Europäern wie Pier Paolo Pasolini und Jean Rouch.
Doch natürlich ist nicht alles neu in diesem Jahr in Locarno. Es wird auch 2019 einen Wettbewerb geben. 17 Filme bewerben sich um den "Goldenen Leoparden". Die Jury wird geleitet von der französischen Regisseurin Catherine Breillat, bekannt geworden durch ihre freizügigen Filme zum Thema Sexualität. Mit dabei in der Jury in diesem Jahr ist auch die deutsche Filmemacherin Valeska Grisebach.
Aus Deutschland stellt sich "Das freiwillige Jahr" im Wettbewerb der Konkurrenz
Und ein deutscher Film hat es in diesem Jahr auch in die Wettbewerbskonkurrenz geschafft. Als Weltpremiere zeigen die beiden Regisseure Ulrich Köhler und Henner Winckler ihren Film "Das freiwillige Jahr", in dem es um eine nicht ganz einfache Vater-Tochter-Beziehung geht, um zerplatzte Träume und unterschiedliche Vorstellungen vom Leben.
Eröffnet wird das Festival mit dem italienischen Film "Magari" von Regisseurin Ginevra Elkann, der Geschichte einer Familie in den frühen 1990ern. Drei Geschwister reisen von Paris nach Rom, um den Vater zu besuchen. Es geht um Kindheit, die Mühen des Erwachsenwerdens, um Geschwisterkonflikte. "Magari" läuft nicht im Wettbewerb, sondern auf dem großen Platz der Stadt, dort schlägt für viele Festivalbesucher das wahre Herz der Veranstaltung in Locarno. Open-Air-Kino vor bis zu 8000 Zuschauern (s. Bild oben) ist dort zu sehen, das ist einzigartig in der Festivallandschaft weltweit - und dort wird auch der begehrte Publikumspreis vergeben.
Deutsches Kino mit Hollywood-Starbesetzung
Auf der großen Piazza darf sich auch der junge deutsche Regisseur Patrick Vollrath, der 2015 den Studenten-Oscar in der Sparte Kurzfilm gewonnen hat, auf die Premiere seines Spielfilmdebüts "7500" freuen. Vollrath erzählt die Geschichte eines Co-Piloten (Hollywood-Schauspieler Joseph Gordon-Levitt), der sich gegen eine geplante Flugzeugentführung zu Wehr setzt.
"13 + 6 = Piazza Grande" heißt etwas mysteriös die Reihe mit Filmen, die unter freiem Himmel in Locarno zu sehen sein werden, Filme, die durchaus publikumswirksam sein dürfen. Und so werden dort in den kommenden Tagen nicht ausschließlich Weltpremieren aufgeführt, sondern auch Filme, die schon woanders zu sehen waren und sicher ein großes Publikum anziehen. Und: Es werden sechs sogenannte "Crazy-Midnight-Filme" gezeigt, die den anvisierten jungen Festival-Zuschauern die Haare zu Berge stehen lassen sollen.
Lili Hinstin verteidigt Quentin Tarantino gegen Kritiker
Auch Quentin Tarantinos "Once Upon a Time in Hollywood" wird auf der großen Piazza vor wohl ausverkauften Plätzen gezeigt. Lili Hinstin sagte im NZZ-Interview, dass sie ein Fan des Films sei und wehrte sich dabei gegen die Kritik, Tarantino-Filme seien zu brutal und frauenfeindlich: "Ich mag es, wie er die Frauen in seinem neuen Film darstellt", so die künstlerische Leiterin von Locarno. In diesem Zusammenhang betonte Hinstin auch, sie sei gegen jede Form von "Political Correctness": "Die Gedankenpolizei besteht aus Leuten, die im 15. Jahrhundert als Inquisitoren aufgetreten wären." Sie habe schon von Boykott-Aufrufen gegen den neuen Tarantino-Film gehört, die sie "lächerlich" findet.
Traditionell setzt Locarno aber neben solch etablierten Regiestars vor allem auf den Nachwuchs. In der Reihe "Filmemacher der Gegenwart" wird in diesem Jahr auch der deutsche Film "Space Dogs" gezeigt. Eine Dokumentation von Elsa Kremser und Levin Peter, die einem der berühmtesten Hunde der Menschheitsgeschichte ein filmisches Denkmal setzt. Der Film über die Hündin Laika, die 1957 als erstes Lebewesen in den Weltraum geschossen wurde, gibt den Filmemachern Gelegenheit, auf die Historie der Sowjetunion und Russlands zu schauen.
Ehrenpreise gehen in die Schweiz, in die USA und nach Südkorea
Am Ende des Festivals wird der begehrte Goldene Leopard verliehen, andere Preisträger stehen aber schon jetzt fest. Der Goldene Leopard fürs Lebenswerk geht 2019 an den Schweizer Regisseur Fredi M. Murer. Hollywood-Schauspielerin Hilary Swank bekommt ebenso wie US-Regisseur John Waters einen Sonderpreis ("Leopold Club Award" bzw. "Pardo d'onore Manor"). Der südkoreanische Starschauspieler Song Kang-Ho darf sich den diesjährigen Schauspieler-Preis ("Excellence Award") abholen.
Und auch deutsche Preisträger stehen schon fest. Maren Ade, für "Toni Erdmann" 2016 weltweit als Regisseurin gefeiert, bekommt gemeinsam mit ihren Produzenten-Kollegen Janine Jackowski und Jonas Dornach in diesem Jahr den "Premio Raimondo Rezzonico". Die drei erhalten die Auszeichnung als Inhaber der Produktions-Firma "Komplizen Film". Mit der Ehrung werden in Locarno Produzenten von Independent-Filmen abseits der großen Studios geehrt.
Hinstin bekam von Filmemacherinnen einige Absagen
Und die Frauen? Lili Hinstin hat mit der Jury-Präsidentin, mit der Regisseurin des Eröffnungsfilms und mit der Auswahl einiger Preisträgerinnen ein Zeichen gesetzt. Aber: Sie hat auch Absagen bekommen: "Von den vielen Frauen, die wir für einen Preis vorgesehen hätten, sagten die meisten ab mit der Begründung zu arbeiten oder Ferien mit der Familie zu machen", so die 1971 in Paris geborene Hinstin im NZZ-Interview. Offenbar seien Männer eher gewillt, sich für eine Ehrung andere Aufgaben vom Leib zu halten.
Das Festival in Locarno beginnt am 6.8.2019 mit einer Preview-Vorstellung von Spike Lees restauriertem Film "Do the Right Thing" auf der Piazza Grande - dies ist auch Auftakt der Retrospektive. Offiziell wird das Festival dann am 7.8. mit "Magari" eröffnet und endet mit der Preisverleihung am 17. August.