Griechenland-Türkei: 100 Jahre Vertrag von Lausanne
23. Juli 2023Am Rande des NATO-Gipfels in Litauen (11./12.07.2023) verständigten sich Griechenlands Regierungschef Kyriakos Mitsotakis und der Staatspräsident der Türkei, Recep Tayyip Erdogan, darauf, die bilateralen Beziehungen zu verbessern. Immerhin: In den vergangenen Jahrzehnten wurden aus den einstigen Erzfeinden Nachbarn. Der Vertrag von Lausanne hat dazu beigetragen. Um das zu verstehen, muss man die Vorgeschichte kennen.
Konstantinopel: Ein historisches Trauma
Im Jahr 1453 eroberten die Türken Konstantinopel, die Hauptstadt des Byzantinischen Reiches, das heutige Istanbul. Für die Griechen war die damalige Niederlage ein historisches Trauma, das bis heute nachwirkt - denn dadurch wurde ihre eigene Führungsrolle in der Region beendet. Fortan lebten sie unter osmanischer Herrschaft, genauso wie alle anderen Völker des Balkans. Die Konsequenz: Die Gründung neuer Nationalstaaten in Südosteuropa konnte nur gegen den Willen des Osmanischen Reichs erfolgen. Die Griechen machten den Anfang: Nach einem erfolgreichen Aufstand konstituierte sich 1830 der moderne griechische Staat.
In seinem Buch "La Grèce d'aujourd'hui" (Das heutige Griechenland) beschreibt der französische Archäologe Gaston Deschamps seine Eindrücke aus Griechenland anno 1892. In der Agrarregion Thessalien fragt er einen Ortsvorsteher, ob es nicht an der Zeit sei, dass Griechenland auf neue Kriegsabenteuer verzichte und lieber seine Finanzen in den Griff bekomme. "So soll es sein, mein Sohn", meint der Thessalier, "aber zuerst kommen wir nach Konstantinopel. Dann sehen wir weiter..."
Zu diesem Zeitpunkt gilt die Eroberung Istanbuls und die Auferstehung des Byzantinischen Reiches als die Megali Idea, die "Große Idee", die zu Heldentaten inspiriert. 1897 greift Griechenland das Osmanische Reich an und erleidet eine herbe Niederlage. Das Blatt wendet sich 1913 während der Balkankriege: Griechenland kann sich die Regionen Makedonien, Epirus und Thrakien zum großen Teil einverleiben.
Erbitterter Kampf um Smyrna
Wenig später nimmt die Geschichte eine teuflische Wende: Mit dem Abkommen von Sèvres diktieren die Siegermächte des Ersten Weltkriegs den Osmanen harte Friedensbedingungen und Griechenland bekommt die Hoheit über Izmir (Griechisch: Smyrna) zugesprochen. Die Handelsmetropole ist griechisch geprägt und für ihre Liberalität berühmt.
Daraufhin gibt der Athener Regierungschef Eleftherios Venizelos den Befehl, in Richtung Ankara vorzurücken - trotz mangelnder Versorgung seiner Truppen, die bald von der türkischen Armee unter der Führung Atatürks umzingelt werden. Die Griechen ergreifen die Flucht, Smyrna wird niedergebrannt.
2009 schreibt der Publizist Antonis Karkagiannis in der Zeitung Kathimerini: "Aus heutiger Sicht erscheint es unglaublich, dass ein intelligenter Politiker wie Venizelos unüberlegt in die Falle tappt. Eine Erklärung könnte sein, dass ihm der Ruhm nach den Balkankriegen einfach zu Kopf gestiegen war…"
Der Vertrag von Lausanne revidiert das Abkommen von Sèvres. Grenzfragen und der Status vieler Inseln in der Ägäis werden geklärt. Schmerzhaft für alle Beteiligten: Es kommt zu einem Bevölkerungsaustausch, der an die Religionszugehörigkeit anknüpft.
Über eine Million orthodoxe Christen verlassen das Gebiet der Türkischen Republik, im Gegenzug kommen 500.000 Muslime in die Türkei. Griechenland muss seine "Große Idee" zu Grabe tragen und zudem das Ende der griechischen Besiedlung Kleinasiens nach 2.500 Jahren hinnehmen.
Nächste Station: Internationaler Gerichtshof
Seit Lausanne kam es nie wieder zum Krieg zwischen den beiden Ländern. Spannungen gibt es trotzdem. Griechenlands Regierungschef Mitsotakis will strittige Themen dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag vorlegen. Der Ansatz erscheint vernünftig, eine Alternative ist nicht in Sicht.
In einem vielbeachteten Strategiepapier erklären die Athener Politikwissenschaftler Athanasios Platias und Konstantinos Koliopoulos im Januar 2023: "Griechenland und die Türkei sind nicht im Krieg, aber es gibt auch keinen umfassenden Frieden. (…) Und trotzdem: Selbst in einem spannungsgeladenen Umfeld mangelt es nicht an gemeinsamen Interessen, die zu einer Zusammenarbeit führen".
Gründungsvertrag der modernen Türkei
Auch für die Türkei hat der Vertrag von Lausanne große Bedeutung. Er gilt als Gründungsdokument der modernen Türkischen Republik - im Gegensatz zum Vertrag von Sèvres und dem Waffenstillstand von Moudros, die als "Dokumente des Zusammenbruchs" des Osmanischen Reichs nach dem Ersten Weltkrieg angesehen wurden.
Der Vertrag beendete den Kriegszustand zwischen den Entente-Staaten und der Türkei, der mit dem Ersten Weltkrieg begonnen und etwa zehn Jahre angedauert hatte. Nach seiner Unterzeichnung verließen die letzten alliierten Truppen Istanbul im Oktober 1923. Am 13. Oktober wurde die Hauptstadt von Istanbul nach Ankara verlegt. Am 29. Oktober wurde die Türkische Republik ausgerufen, gefolgt von der Abschaffung des Sultanats und des Kalifats.
Grenzen und Souveränität
Mit Lausanne wurden die nationalen Grenzen der Türkei festgelegt und die politische Unabhängigkeit und Souveränität der Türkei innerhalb dieser Grenzen anerkannt. Diese Grenzen haben sich bis heute nicht geändert, mit Ausnahme der Provinz Hatay, die der Republik 1939 beitrat.
In Lausanne wurden Türken einige Rüstungs- und Militärbeschränkungen für die Meerenge zwischen Mittelmeer und Schwarzem Meer auferlegt. Jedoch gab der Vertrag von Montreux vom 20. Juli 1936 der Türkei die volle Souveränität über die Dardanellen, das Marmarameer und den Bosporus zurück.
Eine weitere Bedeutung von Lausanne war die vollständige Abschaffung der sogenannten Kapitulationen - Verträge des Osmanischen Reichs mit westlichen Staaten, die diesen Privilegien einräumten. Obwohl die Türkei bis 1954 die aus dem Osmanischen Reich verbliebenen Schulden bezahlte, erlangte sie in Lausanne ihre wirtschaftliche Unabhängigkeit.
Wem gehören die Inseln?
Mit dem Vertrag von Lausanne, in dem auch die Minderheitenrechte geregelt wurden, wurden die in der Türkei lebenden Nicht-Muslime als Minderheiten definiert. Außerdem wurde der türkischen Gemeinschaft im griechischen Westthrakien der Status einer Minderheit zuerkannt.
Ein weiteres wichtiges Ergebnis von Lausanne war die Einigung über die Ägäis und den Besitz der dortigen Inseln. Die Türkei akzeptierte die Verträge von 1913, durch die einige Inseln, darunter Lesbos, Chios und Samos, an Griechenland fielen, und verzichtete auf ihre Rechte an den "12 Inseln", die bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs unter italienischer Besatzung blieben. Die Kontrolle über Bozcaada und Gökceada wurde der Türkei überlassen.
Verschwörungstheorien
Die Bedeutung des Vertrags von Lausanne wird in einigen Kreisen und von Verschwörungstheoretikern in der Türkei immer noch diskutiert. Die beiden wichtigsten Verschwörungstheorien über den Vertrag sind, dass es geheime Klauseln gebe, die nicht offengelegt würden und dass der Vertrag 100 Jahre nach der Unterzeichnung seine Gültigkeit verliere. Obwohl diese beiden Behauptungen von seriösen Historikern in der Türkei zurückgewiesen werden, bestimmen sie gelegentlich die politische Debatte im Land.