Kiew: Alltag im Ausnahmezustand
11. Dezember 2013Es schneit und schneit und schneit. Das Wetter meint es nicht gut mit den Demonstranten in Kiew. Seit Wochen protestieren sie gegen die Regierung und den Präsidenten Viktor Janukowitsch, teils bei minus 12 Grad Celsius. Doch die Stimmung ist fröhlich, fast feierlich. Immer wieder hallen Rufe "Ruhm der Ukraine" durch die Stadtmitte. Immer wieder wird die ukrainische Nationalhymne gesungen: "Noch ist das Schicksal der Ukraine nicht verloren." Den Protestlern ist es in den vergangenen Stunden gelungen, zwei Räumungsaktionen der Polizei abzuwehren. Manche Redner auf der Bühne, die auf dem "Maidan Nesaleschnosti" (Unabhängigkeitsplatz) stehen, sprechen schon von einem Sieg.
Gescheiterte Räumungsversuche
Die Kiewer Protestmeile war Anfang dieser Woche zunächst deutlich geschrumpft. Jetzt erstreckt sie sich über einige hundert Meter entlang des Boulevards Chreschtschatik. Zuvor hatte die Polizei tausende Demonstranten von den Seitenstraßen und aus dem Regierungsviertel auf den "Maidan" zurückgedrängt und dort umzingelt. Doch in der Nacht auf Mittwoch leisteten die Demonstranten bei einer Räumungsaktion erfolgreich Widerstand.
Am Mittwochmorgen scheiterte auch der Versuch der Sondereinheit "Berkut" (Steinadler), das von Demonstranten besetzte und als Basislager benutzte Stadtratsgebäude zu stürmen. Die Besetzer spritzten Wasser aus den Fenstern des Gebäudes auf die Einsatzkräfte, das auf den Helmen und Schilden gefror. Daraufhin zogen sich die Polizisten komplett aus der Stadtmitte zurück.
Afghanistan-Veteranen zwischen den Fronten
Dass es bisher nur wenige Verletzte gab, ist wohl auch einer Gruppe von Veteranen des sowjetischen Afghanistan-Kriegs zu verdanken. "Wir unterstützen keine Partei", sagte einer von ihnen im Gespräch mit der Deutschen Welle. "Wir wollen nur verhindern, dass es ein Blutbad gibt."
Die Afghanistan-Veteranen sind ehemalige Fallschirmjäger, kräftige Männer in grünen Armeeuniformen. "Wenn es brenzlig wird, stellen wir uns zwischen die Demonstranten und die Polizei", sagt einer. Das bleibe nicht ohne Folgen, fügt ein anderer hinzu und zeigt auf einen Bluterguss hinter seinem linken Ohr. Das seien Spuren vom Schlagstock eines Polizisten.
Straßenbarrikaden neu aufgebaut
Nach dem Rückzug der Polizei bauten die Demonstranten die bereits geräumten Straßenbarrikaden wieder auf. Die ganze Protestmeile glich am Mittwochnachmittag einem Ameisenhaufen, in dem jeder seine Aufgabe hatte. Die einen schaufelten Schnee weg, die anderen kümmerten sich um warmes Essen. Immer wieder hörte man Sätze wie: "Ich habe warme Decken mitgebracht, wo kann ich sie abgeben?"
Rentner und Studenten aus allen Teilen des Landes unterhielten sich auf dem "Maidan" darüber, dass sich die Ukraine der Europäischen Union und nicht Russland zuwenden soll. Viele beschimpften den Präsidenten Viktor Janukowitsch. Er hatte vor wenigen Wochen die geplante Unterzeichnung eines Assoziierungsabkommens mit der EU wegen des russischen Drucks auf Eis gelegt und dadurch die aktuelle Protestwelle ausgelöst.
Alltag am Rande der Proteste
Doch wer nach den Bildern aus Kiew glaubt, die ganze Stadt sei in Aufruhr, liegt falsch. Bereits in den Seitenstraßen ist von Protesten nichts mehr zu spüren. Nur ab und zu trifft man Menschen, die blau-gelbe Bänder auf ihren Jacken tragen – die Farben der ukrainischen Nationalfahne.
Ein Großteil der Drei-Millionen-Metropole Kiew lebt weiter den normalen Alltag. Manche sind über das Verkehrschaos wegen Schnee und Eis und die frostigen Temperaturen mehr verärgert, als über den Versuch der Polizei, die Protestler mit Gewalt zu vertreiben.
Viele Menschen auf den Straßen gehen einfach ihren Geschäften nach. Die Cafés sind voll und nicht überall wird über die Proteste geredet. In einem Schnellrestaurant ein paar Straßen vom Chreschtschatik entfernt sitzen zwei Mädchen und ein Junge. Sie sind Studenten. Sie lachen viel, surfen mit ihren Laptops im Internet. Ob sie heute schon auf dem "Maidan" waren? "Nein, wieso?", sagt eines der Mädchen überrascht. "Wir gehen da nicht hin, es macht keinen Sinn."
Angst vor "Polizeistaat"
Gleichgültig wirkt auch eine Frau um die 50, die ihren Namen nicht nennen möchte. Sie arbeitet als Verkäuferin in einem Juweliergeschäft auf dem Chreschtschatik. Am Mittwochmorgen beobachtete sie durch das Fenster ihres Geschäfts, wie sich Polizei und Demonstranten Scharmützel lieferten. Mitgefühl habe sie nicht. "Das sind ukrainische Nationalisten", meint die Frau. Mit denen könne sie nichts anfangen.
In der Tat scheinen besonders viele Demonstranten aus der Westukraine angereist zu sein. So wie Mychailo, ein Lehrer aus Lwiw. Der Mittvierziger sitzt auf einem Stuhl im besetzten Haus des Stadtrats und kämpft mit dem Schlaf. "Wir sind gekommen, weil wir nicht in einem Polizeistaat wie in Russland oder Weißrussland leben wollen", sagt er. Es ist der Satz, den man in diesen Tagen in Kiew sehr oft hört. Es scheint, als hätten viele das Gefühl "jetzt oder nie". An Aufgeben denken sie nicht.