Protest in Kiew wird radikaler
20. Januar 2014Brennende Polizeibusse, Tränengas, Explosionen. Nach wochenlangen friedlichen Protesten gegen die Regierung und den Präsidenten in der Ukraine ist es am Sonntag (19.01.2014) in Kiew zu schweren Ausschreitungen zwischen oppositionellen Demonstranten und der Polizei gekommen.
"Es gibt eine neue Dynamik", sagt Andreas Umland, Politik-Experte an der Kiewer Mohyla-Akademie im Gespräch mit der Deutschen Welle. Der Protest richte sich "nicht mehr auf einen bloßen Regierungswechsel", sondern auf einen "breiteren Regimewechsel", also auf einen kompletten Austausch der Führungselite des Landes. Gewalt sei immer wahrscheinlicher.
Allerdings ist Staatspräsident Viktor Janukowitsch mittlerweile offenbar bereit zum Dialog mit den Regierungsgegnern.Er habe zugestimmt, eine gemeinsame Kommission zur Lösung der Krise einzusetzen, erklärte Oppositionspolitiker Vitali Klitschko im Anschluss an ein Treffen mit Janukowitsch.
Die Lage war bereits im Vorfeld der jüngsten Auseinandersetzungen angespannt. Vor wenigen Tagen hatte ein Gericht Demonstrationen in der Kiewer Innenstadt bis Anfang März verboten.Seit Ende November 2013 protestieren dort Zehntausende gegen den prorussischen Kurs des Präsidenten Viktor Janukowitsch. Auslöser für die Proteste war dessen Entscheidung, das Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Union nicht zu unterzeichnen und stattdessen eine engere Zusammenarbeit mit Russland voranzutreiben.
Protest gegen Versammlungsverbote
Am vergangenen Donnerstag (16.01.2014) hatte das Parlament mehrere Gesetze verabschiedet,die das Demonstrationsrecht einschränken. Danach drohen Aktivisten der Proteste wegen "Extremismus" langjährige Freiheitsstrafen. In sozialen Netzwerken hieß es daraufhin, das Parlament habe eine rote Linie überschritten.
Trotz dieser Verbote hatten sich am Sonntagnachmittag Hunderttausende auf dem Unabhängigkeitsplatz versammelt (Maidan Nesaleschnosti), um gegen die neuen Gesetze zu protestieren. Die ukrainische Oppostion spricht von 500.000 Demonstranten, internationale Nachrichtenagenturen nennen Zahlen zwischen 100.000 und 200.000 Protestierenden.
Augenzeugen berichten, hunderte Aktivisten hätten versucht, in das abgesperrte Regierungsviertel durchzudringen. Es sei zu Zusammenstößen mit Sondereinheiten der ukrainischen Polizei gekommen, bei denen es dutzende Verletzte auf beiden Seiten gegeben habe. Von der Opposition hieß es später, Provokateure hätten Polizisten angegriffen.
"Opposition kann den Menschen nichts anbieten"
Manche Kritiker geben den Oppositionsführern eine Mitschuld an der Eskalation der Gewalt. Die Opposition habe keinen klaren Plan und sei unfähig, sich auf einen Anführer der Proteste zu einigen. Der Vorwurf richtet sich gegen Arsenij Jazenjuk, Fraktionschef der Partei "Batkiwschtschina" (Vaterland) der ehemaligen Ministerpräsidentin Julia Timoschenko, gegen den Boxweltmeister Vitali Klitschko von der Partei "UDAR" (Schlag) und gegen Oleh Tjahnybok, Anführer der rechtspopulistischen Partei "Swoboda" (Freiheit). Am Sonntag erteilte Jazenjuk Forderungen nach einem gemeinsamen Anführer der Proteste erneut eine Absage. Der Anführer sei das ukrainische Volk, sagte er auf dem Maidan.
"Gewiss, auch die Opposition hat versagt", meint Gerhard Simon, Osteuropa-Experte an der Kölner Universität. "Sie kann den Menschen, die Woche für Woche auf den Maidan kommen, nichts Realistisches anbieten". Forderungen nach einem Rücktritt der Regierung seien "nicht durchsetzbar", sagt Simon.
In den vergangenen Tagen hatte sich ein Richtungsstreit in der Oppositionsführung bereits abgezeichnet. Der ehemalige Innenminister Juri Luzenko rief die Ukrainer auf zu einem "Sturm auf die regierende Bande". "Es gibt nichts mehr zu verlieren", schrieb Luzenko in seinem Blog auf Facebook. Der Parteilose ist bis heute der prominenteste Oppositionelle, der de facto zu einem gewaltsamen Aufstand gegen den Präsidenten und die Regierung aufruft. Die parlamentarische Opposition dagegen betont, man sei gegen Gewalt. Am Sonntag verkündeten die Oppositionsführer einen neuen Aktionsplan, der die Gründung eines Alternativparlaments und Neuwahlen vorsieht.
Ultimatum der Opposition läuft aus
In den kommenden Tagen dürfte die Lage angespannt bleiben. Die Opposition hat zu einem landesweiten Streik aufgerufen. Solche Aufrufe hat es bereits in den vergangenen Wochen gegeben, sie wurden allerdings nicht umgesetzt.
Massenproteste gegen die Regierung beschränken sich großenteils auf die Hauptstadt Kiew. In anderen Städten des 45-Millionen-Landes versammeln sich für gewöhnlich lediglich einige hundert Demonstranten. Im bevölkerungsreichen Osten und Süden der Ukraine steht weiterhin eine Mehrheit der Ukrainer hinter dem Präsidenten Janukowitsch und seiner Politik. Nur in der Westukraine gehen Tausende auf die Straße.
Darüber, ob nun Präsident Janukowitsch fest im Sattel sitzt, gehen die Meinungen auseinander. "Offensichtlich nicht", meint Andreas Umland. Für den Experten sind die neulich im Parlament verabschiedeten Gesetze "Zuckungen eines sterbenden Organismus". Gerhard Simon sieht das anders: Janukowitsch sei zwar "geschwächt, aber weniger als die Opposition".
Am Mittwoch (22.01.2014) läuft das Ultimatum ab, das die Opposition dem Präsidenten am 7. Januar gestellt hatte. Eine der Bedingungen war der Rücktritt der Regierung. Einer der Oppositionsführer, Arsenij Jazenjuk, droht für den Fall, dass die Forderungen nicht erfüllt werden, mit einer Demonstration direkt vor dem Präsidentenamt. Da das Regierungsviertel abgesperrt ist, wären neue Zusammenstöße mit der Polizei unausweichlich.